Der Kanzler

baum

Es war einmal ein Kanzler, der war der mächtigste Mann in seinem Land. Und weil er so mächtig war, hatte er Angst vor allen Menschen. Deshalb versuchte er, sich vor ihnen zu schützen: Wenn er unterwegs war, benutzte er immer ein großes gepanzertes Auto mit kugelsicheren Scheiben, er ließ sich von Killern bewachen – die nannte man vornehm „Bodyguards“ -, und überdies begleitete ihn stets eine Polizeieskorte.
Eines Tages reiste der Kanzler so durch sein Land, und dabei kam er durch einen großen, dunklen Wald. Nicht nur die hohen Fichten und Tannen verdunkelten den Himmel, auch dicke schwarze Wolken zogen auf. Plötzlich brach ein Gewitter los. Es blitzte, und ehe man bis „Drei“ zählen konnte, grollte und rumpelte der Donner. (Der Kanzler konnte übrigens nicht bis „Drei“ zählen, aber das hatte er keinem verraten, und nie hatte es jemand gemerkt.) Das war aber erst der Anfang des Unwetters. Immer schneller folgte Schlag auf Blitz und Blitz auf Schlag. Schließlich paßte auch keine klitzekleine Sekunde mehr zwischen grelles Licht und Kanonenschuß: Das Gewitter war direkt über den Reisenden. Und sie waren direkt darunter.
Die meisten Menschen glauben, daß Gewitter elektrische Entladungen in der Atmosphäre sind. Das ist natürlich völliger Unsinn. Gewitter sind Aufführungen des himmlischen Blitzballetts und des Donnerchors. Sie werden sorgfältig einstudiert – hinter dem Mond, damit man es von der Erde aus nicht beobachten kann. Jeder Blitz weiß also lange vor der Vorstellung, welche Gestalt er zu welchem Zeitpunkt anzunehmen hat, jeder Donnergroller kennt seinen Einsatz. So auch diesmal.
Der Blitz Nummer 25 langweilte sich ein wenig vor seinem Auftritt, und so guckte er nach, was unten auf der Erde los war, auf der er gemäß den Anweisungen der Choreographie in einen Telegraphenmast einschlagen sollte. Eine langweilige Rolle, weit unter seinem Niveau, fand er. Er sah eine Karawane von Autos und Motorrädern, die durch den Wald fuhr, und zählte die Menschen darin und darauf: zwölf Motorradfahrer, acht Menschen in zwei Autos, zwei Menschen in einem Auto: zweiundzwanzig. Das nur spärlich besetzte Auto schaute er sich genauer an. Vorne saß jemand und schien zu arbeiten – jedenfalls drehte er an einem Rad -, im geräumigen Hinterraum dagegen räkelte sich ein anderer und trank dabei aus einem hohen Glas mit schlankem Stiel.
Nummer 25 hatte in den letzten Tagen bei den Gewitterproben hinter dem Mond hart arbeiten müssen – der Blitzballettmeister hatte ihn gehörig getriezt. Deshalb war er nicht gut zu sprechen auf Leute, die andere für sich fleißig sein lassen. Aber er hatte keine Zeit mehr, lange zu überlegen: höchste Zeit für seinen Auftritt! Er startete pünktlich, aber dann… Zum Entsetzen seines Ballettmeisters vollführte er nicht seine einfache einstudierte Figur, sondern spaltete sich in einundzwanzig Teilblitze und traf und tötete einundzwanzig Menschen. Nur den einen sparte er aus, den, der auf dem Rücksitz des einen Autos allein war und nichts tat. Das gab bestimmt noch Ärger im Blitzhimmel!
Noch mehr Ärger aber gab es auf der Erde, unten im Wald. Und genau das hatte Nummer 25 auch gewollt. Führerlos rollten die Motorräder und Autos noch kürzere oder längere Zeit weiter, bis sie in den Straßengraben kippten oder gegen einen Baum rumsten. Unsanft schlitterte auch das Auto des Kanzlers gegen eine dicke deutsche Eiche, und erst beim Aufprall bemerkte er, daß etwas nicht in Ordnung war.
„Hans, paß doch auf!“ sagte er ärgerlich zu seinem Chauffeur.
Doch die über dem Steuer zusammengesunkene Gestalt reagierte nicht.
„Hans!!“
Nichts.
Allmählich begriff selbst der Kanzler, daß in seinem Auto niemand mehr war, dem er Befehle geben konnte.
Natürlich kam er zunächst überhaupt nicht auf die Idee, etwas zu unternehmen. Er wartete, daß man ihn rettete. Aber da war niemand mehr, der das hätte tun können. Nichts regte sich draußen; nur der Regen, der dem Gewitter nachgefolgt war, trommelte gegen die Scheiben und auf das Blech.
Endlich entschloß sich der Kanzler doch auszusteigen. Er tat es nicht aus Sorge um seine Eskorte, sondern weil ihn seine Blase drückte – er hatte unterwegs ziemlich viel Sekt getrunken. Sofort saugten sich seine dünnen, eleganten Lederschuhe voll Wasser, und weil er sehr dick war, sank er tief in den weichen Waldboden ein. Er pinkelte und sah sich danach endlich um. Welche Verheerung! Weit verstreut lagen überall verbeulte Blechstücke, ein Auto brannte lichterloh, und daß seine Begleiter alle mausetot waren, erkannte selbst der Kanzler auf den ersten Blick.
„Ich muß neue Leute einstellen“, war sein erster Gedanke, aber dann begriff er allmählich, daß er im Moment wirklich ganz allein war. Allein in einem großen, dunklen Wald. Völlig durchnäßt. Ohne Schutz. Nur mit sehr, sehr viel Angst.
„Bestimmt wird man mich schon suchen“, versuchte er sich zu beruhigen. „Meine Polizei, mein Grenzschutz, meine Soldaten – sie werden den Wald durchkämmen, sie werden Hubschrauber schicken und mich abholen. Ich sollte ihnen ein Zeichen geben!“
Ein Zeichen geben – aber wie? Es dauerte lange, bis der Kanzler auf den eigentlich vernünftigen Gedanken kam, ein Signalfeuer anzuzünden. Aber wie sollte das gehen – bei dem Regen? Streichhölzer hatte er natürlich nicht, und so mühte er sich lange Zeit mit dem elektrischen Zigarettenanzünder, eine Handvoll völlig durchgeweichtes Reisig zum Brennen zu bringen – natürlich vergeblich. Endlich sah er die Unsinnigkeit seiner Tätigkeit ein, gab auf und grübelte erneut. Was könnte er denn sonst noch machen, um endlich gefunden zu werden?
Wieder zermarterte er lange Zeit sein Gehirn, bis er eine zweite Idee hatte: Natürlich, er konnte rufen! Und er rief. Nein, er brüllte:
„Hallo!!! Halloho! Hier bin ich! Hierher! Ich bin der Kahanzler! Kommt hierher! Rettet mich!!“
Er brüllte so lange, bis er stockheiser war. Niemand kam, um ihn zu retten. Es war nämlich niemand da. Als man in der Hauptstadt des Landes bemerkt hatte, daß der Funkkontakt zur Kanzlerkarawane abgebrochen war, hatte der Vizekanzler sofort erklärt, der Kanzler und seine Begleitung seien durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen. Er hatte sich selbst zum Kanzler ernannt, drei Tage Staatstrauer angeordnet und gleichzeitig verboten, nach den Verschollenen zu suchen. Für dieses Verbot hatte er auch eine wunderschöne Begründung: Er sagte, man dürfe die Ruhe der Toten nicht stören.
Von alldem wußte der Kanzler natürlich nichts. Er merkte nur, daß niemand kam, um ihm zu helfen. Daß er klitschnaß war. Und auf einmal schrecklich hungrig.
Er sah sich im Wald um: Da gab es nichts, was er hätte essen können. Jedenfalls glaubte er das. Er ging zu seinem Auto zurück und durchwühlte die Bar: Da lag noch eine Flasche Sekt, aber sonst auch nichts.
„Ich werde bald tot umfallen, wenn ich nichts zu essen bekomme“, sagte er laut vor sich hin, während er sich gedankenlos seinen fetten Bauch rieb. „Hier muß es doch irgendwo eine Gastwirtschaft geben. Mein Land ist schließlich dicht besiedelt. Und telefonieren kann ich dort bestimmt auch, daß man mich abholen soll.“
Aufs Geratewohl stapfte der Kanzler los. Es ging mühsam und schon bald noch schlechter: Seine teuren maßgefertigten Schuhe lösten sich in Matsch und Morast schnell auf, bald hing die Sohle in Fetzen. Er glaubte geradeaus zu gehen, aber das stimmte natürlich überhaupt nicht. Wie die meisten orientierungslosen Menschen ging er im Kreis – allerdings in einem sehr großen. So kam er ins Beerental.
„Beerental“ – so nennen es die Menschen. Es ist eine Gegend, in die kaum ein Mensch je kommt. Mütter warnen ihre Töchter und Söhne, Großmütter ermahnen ihre Enkelinnen und Enkel: „Gehe nie ins Beerental!“ Es ist nicht leicht, das Verbot einzuhalten, denn im Tal gibt es alles, was die Herzen von Kindern und Erwachsenen begehren: Himbeeren, Brombeeren, Johannisbeeren, Holunderbeeren, Blaubeeren, Erdbeeren und im Winter Schneebeeren. Trotzdem wird es eingehalten. Denn im Beerental geschehen seltsame Dinge, von denen die Eltern ihren Kindern an langen Winterabenden viel zu erzählen wissen.
Dorthin also ging der Kanzler, und während er sich durchs Unterholz schlug, wurde er immer hungriger. Als er gerade aufgeben und sich resigniert seinem Schicksal überlassen wollte, blieb er in einem Gestrüpp mit zahllosen Dornen hängen. Schon wollte er sich fluchend losreißen , als er entdeckte, daß der Busch noch anderes zu bieten hatte als Dornen: Blauschwarze, kugelförmige Früchte hingen da, und jede einzelne Frucht war wiederum aus vielen kleinen Kügelchen zusammengesetzt. Ob man die wohl essen konnte?
Der Hunger war stärker als des Kanzlers Bedenken, und so kostete er davon. Hmmm – das schmeckte gut! Sauer und doch auch süß – und er konnte alles mit der Zunge zerdrücken! Die Früchte löschten den Hunger und waren auch gut gegen Durst, so saftig waren sie. Handvoll um Handvoll stopfte sich der Kanzler in den Mund, und allmählich lernte er dabei, den Dornen auszuweichen und auch den Brennesseln, die mitten in den Sträuchern wuchsen.
„Wie schön, daß es Dir schmeckt“ sagte plötzlich eine tiefe Stimme neben ihm. „Das sind übrigens unsere Brombeeren. Du hättest uns wenigstens fragen sollen, ob Du davon essen darfst.“
Augenblicklich war der Kanzler zur Salzsäule erstarrt – zumindest seine Reflexe waren in Ordnung. Sein Gehirn funktionierte deutlich langsamer: Eine Stimme? Ein Mensch! Ein unverschämter Mensch – er hatte ihn geduzt! Noch nie hatte das jemand gewagt, dem er es nicht erlaubt hatte. Und was warf dieser Mensch ihm vor? Diebstahl! Eine Unverschämtheit – natürlich konnte er bezahlen, seine Kreditkarte hatte er schließlich immer bei sich. Und außerdem war er der Kanzler – merkte dieser freche Kerl das denn nicht? Andererseits — er hatte Angst vor Menschen…
Er beschloß, hoheitsvoll aufzutreten. Langsam sagte er: „Guter Mann, Sie haben wohl keinen Fernseher, sonst hätten Sie mich erkannt. Ich bin der Kanzler. Ihren Schaden werde ich Ihnen selbstverständlich ersetzen – ich nehme, an, Sie akzeptieren American Express? Ich wäre Ihnen übrigens sehr verbunden – ich kann Sie ja mal ins Kanzleramt einladen – wenn ich Ihr Telefon benutzen dürfte…“
Bei dem letzten Satz wandte er sich äußerlich ruhig, aber im Herzen voller Furcht, zu seinem Gesprächspartner um. Oh, wie hatte sein Herz recht! Neben ihm stand nicht ein Mensch, wie er vermutet hatte, sondern es waren vierzehn – sie mußten sich heimtückisch lautlos angeschlichen haben. Es handelte sich offenbar um sieben Erwachsene und sieben Kinder. Die Kinder bedeuteten anscheinend keine Gefahr – sie kümmerten sich überhaupt nicht um ihn, sondern schlemmten in den Brombeeren, wie er es bis vor ein paar Sekunden auch noch getan hatte. Aber die Erwachsenen! Ungeschlachte Kerle, größer als er selbst (und er war nicht eben klein) und dick – nein, nicht eigentlich dick – er selbst war dick -, aber muskulös. Schrecklich muskulös. Sie hatten jetzt einen Halbkreis um ihn gebildet. Gleich würden sie ihn angreifen! Haltsuchend griff der Kanzler nach hinten und piekste sich zahllose Brombeerdornen in die Hand.
Nein, sie griffen nicht an. Sie blieben ruhig auf ihren Plätzen stehen. Dieselbe tiefe Stimme wie vorhin sagte: „Schaden? Eigentlich gibt es keinen. In diesem Sommer tragen die Sträucher genug für uns alle. Du brauchst also nicht für uns zu arbeiten. Es ging uns nur um die Höflichkeit – darauf legen wir nämlich großen Wert. Und was ist das, wovon Du da gerade gesprochen hast: Fernseher? American Express? Telefon?“
Ein Stein fiel dem Kanzler von der Seele – diese Typen waren offensichtlich friedliche Hinterwäldler, die von den Segnungen der Zivilisation noch nichts mitbekommen hatten. Erstaunlich, daß es so etwas in seinem Land noch gab. Das nächste regionale Entwicklungsprogramm würde hier ansetzen, dafür würde er sorgen. Er begann, sich unendlich überlegen zu fühlen.
„Guter Mann“, sagte er überheblich, „machen Sie sich keine Gedanken. Das wird schon. Demnächst verlegen wir hier Breitbandkabel, dann wissen Sie, was in der Welt los ist. Eins aber sollten Sie sich jetzt schon merken: Hochstehende Persönlichkeiten werden nicht geduzt, sondern gesiezt. Ich bin eine hochstehende Persönlichkeit – ich bin der Kanzler. Ich sagte es bereits, aber vielleicht haben Sie es vergessen. Nun gut – wenn es hier bei Ihnen schon kein Telefon gibt – wo ist das nächste Dorf? Ich meine, ein Dorf mit Postamt?“
Die sieben Umstehenden schauten einander an. Breitbandkabel. Siezen. Dorf. Postamt. Jeder in der Gegend des Beerentales wußte, daß es hier so etwas nicht gab. Weil die Menschen einen großen Bogen um das Tal machten. Sie wußten nicht den Grund. Aber es war so. Der erste Mensch, den sie seit langer Zeit zu Gesicht bekommen hatten, den sie mit allen Ehren hatten empfangen wollen, mußte ein Vollidiot sein. Schulterzuckend wandten sie sich ab, nahmen die Kinder mit sich und gingen ihrer Wege.
Einsam blieb der Kanzler in der Dornenhecke zurück. Eigentlich hätte er sich wieder fürchten sollen, aber die Begegnung mit diesen Menschen, die noch nicht einmal die grundlegenden Errungenschaften der Zivilisation kannten, hatte sein Selbstbewußtsein erheblich gestärkt. „Pah, ich kann auch ohne fremde Hilfe ein Postamt finden“, sagte er sich. „Auf geht´s!“
Energisch tat er den ersten Schritt aus der Bormbeerhecke hinaus. Es war ein mutiger, großer Schritt – er rutschte aus, rutschte vorwärts und landete mit seinem dicken Hintern mitten in einem großen feuchten Haufen. „Ihh“, schrie er, weil er sich ekelte, „was ist denn das für ein Dreck?“ Wenn er etwas klüger gewesen wäre, hätte er erkennen können, daß es Bärendreck war – nichts Ungewöhnliches im Beerental. Aber er war eben überhaupt nicht klug.Und er war sehr ungeschickt. Er hatte sich nicht nur den Hosenboden schmutzig gemacht, er hatte sich auch den Fuß verstaucht. Adieu, Postamt – mit seinem schnell anschwellenden Knöchel würde er keine zehn Meter weit kommen.
Also hieß es hierbleiben. Der Kanzler krabbelte zurück in die Brombeerhecke, soweit es die Dornen zuließen, um zumindest ein wenig Schutz vor Nässe und Kälte zu finden. Er kringelte sich in Embryohaltung zusammen, soweit sein dicker Bauch es zuließ. Er schrie nach seiner Mami, soweit seine Heiserkeit es zuließ. Schließlich weinte er sich in den Schlaf. „Ich werde mich fürchterlich erkälten“, war sein letzter Gedanke.
Ausnahmsweise hatte der Kanzler einmal einen richtigen Gedanken gedacht. Als er aufwachte, schmerzten ihn alle Glieder schrecklich, und er fror und schwitzte abwechselnd. Dankbar öffnete er den Mund und trank in kleinen Schlückchen den heißen, mit Honig gesüßten Holunderbeersaft, der ihm an die Lippen gehalten wurde. Wie gut tat das seinem entzündeten Hals! Zufrieden wälzte er sich auf seinem weichen Lager auf die Seite und schlief wieder ein.
Beim nächsten Erwachen war er nach Maßgabe seiner Möglichkeiten bei vollem Bewußtsein. Alles fiel ihm wieder ein – das Unwetter, der Regen, die unheimlichen Fremden, die Brombeerhecke und sein verletzter Fuß. Aber die Hecke war verschwunden. Er lag in einer Höhle auf einem dicken Lager aus weichem Heu und blickte in das freundliche Gesicht einer alten, aber noch sehr kräftigen Frau.
„Na, da bist Du ja fast wieder gesund“, sagte sie munter. „Dein Fuß wird aber noch ein paar Tage brauchen, bis er wieder fit ist. Richtig laufen kannst Du jetzt noch nicht. Bis es soweit ist, darfst Du mir im Haushalt helfen.“
Als die Alte so freundlich und bestimmt zu ihm sprach, kam der Kanzler gar nicht auf die Idee, Widerworte zu machen. Er vergaß sogar völlig, daß er der Kanzler war. Seine Mami sprach zu ihm! Seine geliebte, angebetete, strenge Mami, die er noch immer liebte, obwohl sie schon so lange tot war.
„Ja, Mami“, sagte er folgsam. „Selbstverständlich helfe ich Dir gern. Soll ich den Mülleimer runterbringen?“
„Einen Mülleimer haben wir nicht, weil es hier keinen Müll gibt“, erhielt er zur Antwort. „Aber Du kannst mir beim Honigschleudern helfen und dann aus dem Wachs Kerzen ziehen. Als Dochte nimmst Du gesponnene Flachsfäden, die liegen da drüben. Und wenn Du fertig bist, kannst Du…“
Arbeit gab es genug, und der Kanzler mühte sich redlich, die Aufträge zu erledigen. Natürlich stellte er sich zunächst ausgesprochen ungeschickt an, denn er hatte in seiner Hauptstadt andere für sich arbeiten lassen. Aber er lernte, und er lernte auch die Befriedigung kennen, die man verspürt, wenn man eine Aufgabe ordentlich zu Ende geführt hat. Am meisten aber genoß er die Abende. Wenn die Dämmerung begann, trafen sich alle vierzehn in der Höhle – die sieben Großen und die sieben Kleinen, die er am Tag seines Unfalls zum ersten Mal gesehen hatte. Dann saß man zusammen, braute Met – in heißem Wasser aufgelösten vergorenen Honig -, und die Alten erzählten Märchen. Der Kanzler hörte hingerissen zu, nur manchmal kam ihm etwas komisch vor. Er hatte dann den Eindruck, daß die Umrisse der anderen sich verwischten, daß die Köpfe größer wurden, die Nasen sich zu Schnauzen auswuchsen, die Hände zu Pranken wurden und die Körper sich mit einem dichten Fell überzogen. Aber das ging immer schnell vorbei, und er wußte auch nie, ob das, was er gesehen hatte, wirklich war oder ob er zu viel Met getrunken hatte.
Er lernte viel, aber er vergaß auch viel. Er vergaß völlig, daß er der Kanzler war. So kam er bald nicht mehr auf die Idee, daß er anderen Befehle geben oder von ihnen bedient werden könnte. Er vergaß, daß er zurück in seine Hauptstadt wollte. Ein Tag verging wie der andere – mit Arbeit und Muße -, und er wünschte, daß es immer so weiterginge.
„Dein Fuß ist jetzt gut ausgeheilt. Hier ist Proviant. Wenn Du zwei Tagesmärsche gegen Mittag gehst, wirst Du ein Dorf finden. Bestimmt wird man Dir dort helfen, wieder nach Hause zu kommen. Morgen mußt Du uns verlassen.“
Es war so ein gemütlicher Abend gewesen, mit Märchen und Met. Die Worte trafen ihn wie ein Keulenschlag. Es war der Alte mit der tiefen Stimme, der, mit dem er zuerst gesprochen hatte, der ihn hinauswarf.
„Wa…Warum?“ stammelte er. „Bitte… bitte laßt mich doch bleiben! Arbeite ich zu wenig? Ich will doppelt so viel tun! Es ist so schön bei Euch!“
„Es freut uns, daß es Dir bei uns gefällt. Aber Du mußt gehen. Es gibt keine Arbeit mehr. Morgen gehen wir schlafen.“
„Schlafen? Morgen? Aber wir gehen doch auch heute schlafen! Wir gehen jeden Tag schlafen!“
„Wir gehen anders schlafen. Wir werden es Dir erklären.“
Aber es folgte keine Erklärung. Alle schwiegen, selbst die Kleinen, die sonst immer miteinander schwatzten, während sie durch die Höhle tobten. Jetzt saßen sie mucksmäuschenstill.
Lautlos, fast unmerklich vollzog sich die Veränderung. Bald aber war sie so deutlich, so real, daß der Kanzler sich nicht mehr selbst täuschen konnte. Es kostete ihn riesige Überwindung, nicht Hals über Kopf aus der Höhle zu fliehen.
Um ihn herum saßen vierzehn Bären – Braunbären, Schwarzbären, Grizzlies – er kannte sich da nicht aus. Jedenfalls waren sie groß, und sie hatten furchterregend große Schnauzen und Pranken. Bären, die ihn töten könnten. Die bestimmt schon Menschen getötet hatten. Jedenfalls hatte er früher, als er noch las, gelesen, daß sie das taten. Andererseits – er hatte mit diesen Bären eine lange Zeit verbracht. Sie hatten ihn gesundgepflegt. Sie hatten ihm wunderschöne Märchen erzählt. Sie waren absolut friedlich. Und Mami hatte ihm gezeigt, wie ein sinnvolles Leben aussehen konnte, in dem man für andere arbeitete und von anderen etwas bekam.
Er entschloß sich blitzschnell. „Bitte, laßt mich trotzdem bei Euch bleiben. Ich will nicht mehr zu den Menschen. Die Menschen sind so…“
Es fiel ihm nicht ein, wie die Menschen waren, aber die Bären verstanden ihn trotzdem.
„Wir werden fünf Monate lang Winterschlaf halten, und das kannst Du nicht. Du mußt zurück. Wir können gut verstehen, daß Du Angst vor den Menschen hast. Wir haben auch Angst vor ihnen. Aber vielleicht kannst Du etwas ändern. Du hast doch am Anfang immer gesagt, Du bist der Kanzler…“
„Ich bin der Kanzler…“ Lange hatte er das nicht mehr gedacht, aber jetzt wurde es ihm wieder bewußt. Ja, er war der Kanzler! Er bestimmte die Richtlinien der Politik! Er würde etwas ändern!
Er nahm sich zusammen, obwohl ihm zum Heulen zumute war. „Gut“, sagte er, „ich verstehe, daß ich nicht bleiben kann. Vielleicht gestattet Ihr mir, Euch im nächsten Sommer zu besuchen. Morgen werde ich gehen, zwei Tagesmärsche gegen Mittag, bis ins nächste Dorf. Zu den Menschen.“
„Du wirst uns willkommen sein. Wir wünschen eine gute Reise“, sagten alle vierzehn Bären im Chor und legten sich dann ohne ein weiteres Wort schlafen. Auch der Kanzler ging zu seinem Heulager und schlief dort tief und fest, obwohl er geglaubt hatte, kein Auge zumachen zu können.
Er erwachte früh und sah, daß alle Bären noch schliefen. Leise schulterte er seinen Proviantsack und verließ die Höhle – er dachte zu recht, daß der Abschied gestern Abend stattgefunden hatte. Zwei Tagemärsche ging er gegen Mittag, bis er das Dorf erreichte, von dem die Bären gesprochen hatten.
Schon am Dorfrand stieg ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase, den er kannte, an den er sich aber erst mühsam erinnern mußte: natürlich, Diesel! Natürlich? Hmmm…“Sag mal, bitte, wo ist hier ein Telefon?“ fragte er eine Bäuerin, die ihre Kühe nach Hause trieb. „Ungehobelter Kerl!“ sagte die Frau, gab der Leitkuh einen Klaps und sorgte so dafür, daß ein großer warmer Kuhfladen auf des Kanzlers Füße platschte. Was hatte sie nur? Ach so, da gab es dieses Siezen – er erinnerte sich, daß er selbst darauf einmal viel Wert gelegt hatte.
Schließlich hatte er Erfolg – er entdeckte eine Telefonzelle. Er ging hinein und versuchte, die Technik zu verstehen. Mindesteinwurf 30 Pfennig. Die hatte er nicht. Außerdem würde das nicht reichen, denn er mußte ein Ferngespräch führen.
„Würden Sie mir fünf Mark leihen?“ fragte er einen Mann, der gemächlich an der Telefonzelle vorbeiradelte. „Sie bekommen sie spätestens morgen zurück.“
„Nö“, sagte der Mann und fuhr weiter. Als er genug Entfernung gewonnen hatte, rief er zurück: „ Du kommst wohl von den Chaostagen aus Hannover, was? Mach bloß, daß Du wegkommst!“
Chaostage in Hannover? Da schien ja einiges drunter und drüber zu gehen! Höchste Zeit, daß er wieder regierte! Aber dazu mußte er telefonieren – wie aber sollte er das ohne Geld bewerkstelligen? Noch einmal ging er in die Telefonzelle und las sich die dort aushängenden Informationen durch. Endlich entdeckte er die Rettung. Polizei: 110. Feuerwehr: 112. Er wählte die 110.
„Hallo, Polizei? Hier spricht der Kanzler. Sie werden mich vermißt haben. Ich bn vor einiger Zeit verlorengegangen, ich weiß nicht genau, wie lange es her ist. Ich war in der Zwischenzeit im Beerental. Jetzt bin ich im Dorf zwei Tagemärsche südlich davon. Bitte lassen Sie mich sofort abholen.“
„Selbstverständlich, Herr Kanzler“, sagte der Polizeibeamte am Telefon und legte den Hörer auf, bevor er losprustete. Daß jemand wochenlang im Beerental überlebte, mochte ja mit Glück noch angehen. Daß dieser Jemand behauptete, der ehemalige Kanzler zu sein, machte seine Aussage äußerst unglaubwürdig. Und daß der ehemalige Kanzler jemals „Bitte“ gesagt hätte, war vollends unmöglich. Es handelte sich bei dem Anrufer also um einen Spinner, möglicherweise um einen gefährlichen.
Die Streifenwagenbesatzung, die den Kanzler abholte, war entsprechend vorsichtig. Die zwei Beamten begrüßten ihn scheinbar höflich und komplimentierten ihn auf den Rücksitz des Autos, einer setzte sich neben ihn. Weil er einen friedlichen Eindruck machte, verzichteten sie darauf, ihm Handschellen anzulegen. Seine Frage: „Warum gehen wir nicht zu Fuß oder fahren umweltverträglich mit dem Fahrrad?“ ignorierten sie. Sie brachten ihn zur erkennungsdienstlichen Behandlung zur nächsten Polizeistation.
Willig ließ der Kanzler die Prozedur über sich ergehen: Er tauchte seine Fingerkuppen in eine schwarzblaue Masse und drückte seine Finger auf ein Blatt Papier, er ließ sich frontal und im Profil von rechts und von links fotografieren. Er wußte, was als nächstes passieren würde: Alle Daten wurden in den Zentralcomputer eingegeben… Ruhig ließ er sich in eine Zelle abführen.
Dort blieb er nur eine halbe Stunde allein. Die Tür öffnete sich, und sein Vizekanzler trat ein. Sein ehemaliger Vizekanzler. Wer regierte jetzt eigentlich? Aber er stellte keine Fragen, Er wartete.
„Herr Kanzler…“
„Ja?“
„Ich bin so glücklich…“
„Ja?
„Daß Sie wieder da sind…“
Der Kanzler wußte, daß er log. Es war sein Gesichtsausdruck. Er sah so anders aus als die Mienen der Bären, mit denen er die letzten Wochen verbracht hatte, und die – das wurde ihm jetzt bewußt – hatten nie gelogen. Aber er ließ sich nichts anmerken.
„Ich bin auch froh, wieder hier zu sein. Schade, daß Sie mich nicht eher gefunden haben. Bestimmt haben Sie sich bei der Suche viel Mühe gegeben. (Er überhörte das verlegene „Ähem“ des Vizekanzlers.) Aber jetzt bin ich ja da. Es gibt viel zu tun. Ich plane folgende Gesetzesvorhaben:

  1. – Autos werden verboten
  2. – Gewitter werden verboten
  3. – Beeren werden zum Volksnahrungsmittel Nr. 1 erhoben
  4. – Met wird von der Alkoholsteuer ausgenommen
  5. – Bären werden als Menschen anerkannt
  6. – abendliches Märchenerzählen wird gesellschaftliche Pflicht
  7. – die Produktion von Müll wird verboten.“

Zähneknischend machte sich der Vizekanzler Notizen und brachte den verschollenen Kanzler unter dem Jubel der Bevölkerung (Warum jubelte die eigentlich? Sie wußte doch noch gar nichts von der Veränderung!) in die Hauptstadt. Allmählich wurden die sinnvollen Gesetzesvorhaben umgesetzt, die unsinnigen verschwanden in tiefen Schubladen. Der Kanzler lernte, klug zu sein. Er lernte zu genießen. Manchmal, wenn er im August bei einer Wanderung oder einem Fahrradausflug eine Brombeerhecke plünderte, meinte er neben sich eine Stimme zu hören: „Wie schön, daß es Dir schmeckt…“
Und er schmunzelte und begann zu träumen.


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