Der dicke Mann

Es war einmal ein dicker Mann, der rauchte mit Leidenschaft Zigarren (N.B.: Die Geschichte der Zigarre findest Du in Kulles Dissertation). Das hatte er nicht immer tun können: Als er heranwuchs, herrschte in seinem Land Hunger, und es gab bürgerkriegsähnliche Verhältnisse. Männer mit und ohne Uniform erschossen und erschlugen einander. Man nannte das Wahlkampf. Als diese Zeit vorbei war, sorgte ein kleiner Mann mit einem Schnauzbart dafür, daß viele Menschen plötzlich verschwanden und die übrigen in Ruhe leben und arbeiten konnten – weil sie das konnten, kümmerten sie sich nicht um die Verschwundenen. Das dauerte aber nur ein paar Jahre. Danach fing der kleine Mann einen großen Krieg an, und an dessen Ende lag alles in Schutt und Asche.

Der dicke Mann war damals ganz dünn und hatte Hunger wie alle anderen auch. Aber er verbrachte seine Zeit nicht nur damit, Lebensmittel zu besorgen, sondern er dachte auch über etwas nach. Wie konnte man erreichen, daß es nie mehr zu Verhältnissen kommt, wie er sie erlebt hatte?

Als er jung gewesen war, hatten zwei Männer behauptet, eine Antwort auf diese Frage zu wissen. Ein Herr Schmidt aus England sagte, der Markt regle alles zum Besten aller, und ein Herr Marx aus Deutschland vertrat genau den entgegengesetzten Standpunkt.

Er war mit keiner Antwort zufrieden.

Er suchte nach einem Mittelweg.

Und er hatte Glück.

Obwohl er im Morgent(h)au unterwegs war und mit nichts Gutem rechnete, fiel ihm wie dem Sterntalermädchen ein großer Geldsegen in den Schoß. Diesen Schatz verstreute er über den Schutt und die Asche der Nachkriegszeit, und siehe, neues Leben wuchs aus den Ruinen. Fabrikschornsteine begannen zu rauchen, und in den Fabriken arbeiteten entlassene Soldaten. Häuser wurden wieder aufgebaut, und nach Feierabend kauften die Arbeiter Tapeten und Linoleum für ihre neuen Wohnungen.

Geld heckte Geld. Die Taschen der Fabrikbesitzer und Bauherren füllten sich. Freude herrschte unter ihnen, und sie lobten den dicken Mann, dessen Schatz die Grundlage für ihren neuen Reichtum war.

„Halt!“ sagte da der dicke Mann. „Es ist schön, daß ihr gut verdient, aber ihr sollt nicht alles von eurem Gewinn behalten dürfen. Wohlstand für alle! Auch eure Arbeiter, auch die Alten, auch die Arbeitsunfähigen sollen auskömmlich leben können. Ich will nämlich nicht, daß es noch einmal zu einem Bürgerkrieg kommt, wie ich ihn in meiner Jugend erlebt habe.“

Die Fabrikbesitzer und Bauherren guckten skeptisch. Da flüsterte der dicke Mann, der sich unbeobachtet wußte, ihnen noch zu: „Und ich will auch nicht, daß sich die Ideen eines gewissen Herrn Marx durchsetzen.“

Das überzeugte seine Zuhörer.

Es fiel den reichen Herren leicht, aus ihren gefüllten Taschen ein wenig abzugeben. Jedes Jahr wurde ihr Schatz größer. Immer mehr Fabrikschornsteine rauchten, und die Arbeiter kauften inzwischen nicht nur Tapeten und Linoleum, sondern auch Teppiche, Kühlschränke und sogar Autos.

Eines allerdings störte die Herren ein wenig: Der dicke Mann hatte etwas dagen, daß sie untereinander ihre Fabriken und Baufirmen aufkauften. Er wollte so, wie er sagte, „Marktmacht“ verhindern. Nun gut. Sie zuckten nur die Schultern und schlossen eben, solange sie den dicken Mann noch fürchten mußten, ihre Verträge heimlich ab. Wie konnte er nur so dumm sein und glauben, sich einem Gesetz des Marktes entgegenstellen zu können?

Der dicke Mann hatte es nicht nur mit den großen Herren der Wirtschaft zu tun, sondern auch mit den kleinen Leuten. Die liebten ihn, denn sie glaubten es ihm zu verdanken, daß sie in ihren Wohnungen auf Teppichen gingen und im Auto zur Schicht fuhren. Sie wählten ihn deshalb immer wieder an die Macht, und so hatten auch die Wirtschaftsherren – zumindest öffentlich – Respekt vor ihm.

Der dicke Mann war es zufrieden und blies aus seiner Zigarre formvollendete Rauchringe in die Luft.

Die Wirtschaftsherren schlossen heimlich weiter Verträge miteinander und warteten auf ihre Stunde.

Die Stunde kam.

Die Bilanzbuchhalter waren bereit.

Ihr Material war perfekt: Sinkendes Wirtschaftswachstum, steigende Energiepreise, geringere Exporterfolge. Eine Hiobsbotschaft jagte die nächste. Die Buchhalter waren gut geschult und errechneten rote Zahlen. Es gab nichts mehr zu verteilen. Sagten die Bilanzen.

Der dicke Mann mußte ihnen glauben. Er steckte in der Zwangsjacke. Viele Arbeiter waren entlassen worden und drohten, ihn nicht wiederzuwählen. Er wollte aber wiedergewählt werden. So erlaubte er den Wirtschaftsherren Zusammenschlüsse, weil ihm gesagt wurde, nur so seien weitere Entlassungen zu verhindern. Prompt folgten den Firmenhochzeiten weitere Entlassungen.

„Was soll ich denn jetzt noch tun?“ rief der dicke Mann verzweifelt.

„Du mußt deine Politik ändern!“ riefen ihm die Wirtschaftsherren zu. „Wohlstand für alle – was für ein Unsinn! Vielleicht könnte es gehen – wenn unsere Kosten niedriger wären. Alles wird von uns finanziert: der Lebensstandard der Arbeitslosen, der Rentner, und so weiter. Befreie uns davon, und wir können wieder Arbeiter einstellen!“

Der dicke Mann glaubte ihnen nicht recht, aber er hatte keine Wahl. Er tat, was sie wollten. Trotzdem wählten ihn die Arbeiter nicht wieder, denn es ging ihnen immer schlechter.

Wenn er jetzt durch die Straßen ging, versteckte er sich, anders als früher, hinter einer dicken Wolke Zigarrenrauch. Er wollte nicht erkannt werden, und er wollte auch nicht so richtig sehen, was sich ihm da demonstrativ und bescheiden zugleich entgegenreckte.

„Arbeitslos und obdachlos. Ich habe Hunger.“

Um sich vor dem Elend zu schützen, das ihn umgab, kaufte sich der dicke Mann eine Zeitung und begann zu lesen.

„Neue Produktion von Mercedes im Elsass“

„Bremer Vulkan meldet Konkurs an“.

Der dicke Mann nahm seine letzte Kraft zusammen und bat die Wirtschaftsherren des Landes zu einem Champagnerfrühstück. Zwar war er nicht mehr Regierungschef, aber er baute darauf, daß seine Bekannten kamen, und er hatte recht.

Als Begrüßung sagte er nur: „Prost!“, was alle Anwesenden zunächst verwirrte, dann aber erfreut zum Trinken animierte. Die meisten tranken ihr Glas auf ex, auch der dicke Mann. Da er am vorigen Tag nichts gegessen und in der darauffolgenden Nacht kaum geschlafen hatte, war er sofort ziemlich angeschickert. Auch auf viele Wirtschaftsherren wirkte der Alkohol. So waren alle ungewöhnlich ehrlich zueinander.

„Warum macht ihr das?“ fragte der dicke Mann alle, auf die er zusteuerte. Er steuerte übrigens auf alle zu.

„Rendite.“

„Gewinn.“

„Dividende.“

Der dicke Mann war nicht dumm. Er wußte, was hinter all diesen schönen Begriffen steckte: Geld.

Er startete einen letzen Versuch: „Und die Sozialbindung des Eigentums?“

Offenbar ging es seinem Gesprächspartner gerade schlecht, denn er antwortete nicht verbal, sondern mit einer akustisch deutlichen Verdauungsstörung.

Der dicke Mann verstand. Er verließ die Gesellschaft und erschoß sich mit seiner Zigarre.

Null Sekunden später war er im Raum der Nichtlebenden. Er hatte das dringende Gefühl, sich erholen zu müssen.

„Darf man hier rauchen?“ fragte er.

„Klar!“ erhielt er zur Antwort. Ein Pykniker mit wallender Mähne und Rauschebart hatte das gesagt. Der dicke Mann hielt es für höflich, sich vorzustellen.

„Ich bin…“

„Ich weiß“ kicherte der andere, „ich weiß, wer Sie sind. Entschuldigen Sie, aber so was Komisches…“

Und das Kichern wurde zu einem schollernden Gelächter, das durch die Äonen hallte.

 


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