Hamburg und Doris

 

Hamburg und Doris

 

Manfred und Tumu
Papa, ich würde gerne mal nach Hamburg fahren. Kommst Du mit Mama mit?“
Bärdel verschluckte sich vor Überraschung; er kaute gerade genüßlich eine Honigwabe aus. Wieso zog es seinen Sohn in eine Menschengroßstadt? Und vor allem: Warum wollte sein halbstarker Sohn, der beständig nichts mehr betonte als seine Selbständigkeit, auf einmal seine Eltern bei einer so aufregenden Unternehmung dabeihaben?
Nachdem er seinen Husten besiegt hatte, schaute er Manfred nur an, und der verstand die stumme Frage. Er tat sich allerdings schwer, sie zu beantworten, und druckste herum:
„Na ja, ich muß die Menschen doch auch mal kennenlernen, wenn es schon so viele von ihnen gibt. Das geht in einer Stadt bestimmt am besten. Aber ein bißchen Angst habe ich, ehrlich gesagt, doch. Deshalb sollt ihr mitkommen. Und ich möchte etwas Bestimmtes sehen. In der Zeitung habe ich letztens gelesen, daß es in Hamburg einen Zoo gibt. Da möchte ich hin.“
Bärdel simulierte einen neuen Hustenanfall, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Hamburg? Na gut. Das konnte dem Jungen nicht schaden – erst Jungfernstieg und Binnenalster zum Staunen, vielleicht sogar Blankenese, und danach St. Georg zur Ernüchterung. Falls sie nicht allzu müde waren, auch noch die Reeperbahn. Aber Hagenbecks Tierpark? Niemals!
„Keine schlechte Idee, Manfred!“ sagte er. „Frag mal Mama, wann sie Zeit und Lust hat.“
Bärdel war ein kluger Vater. Er wußte, daß sein Sohn seinen Willen durchsetzen würde, wenn er versuchte, ihm sein Vorhaben zu verbieten. Er mußte also taktieren.

Als Manfred und seine Eltern ein paar Tage später aufbrachen, war Tumu in Bärdels Plan eingeweiht. Castornixleben in der Nähe von Bärenleben hatte einen Bahnhof, und dort schmuggelten sie sich als blinde Passagiere in den Gepäckwagen eines Zuges, der zum Hamburger Hauptbahnhof fuhr.
Manfred war schrecklich aufgeregt: Er war noch nie Eisenbahn gefahren, schon gar nicht ohne zu zahlen, und verstand auch nicht den Grund für ihr illegales Handeln. „Papa, wir haben doch Geld, oder?“
Bärdel nickte und bemerkte nur: „Richtig, aber das brauchen wir für Wichtigeres“, was seinen Sohn auch nicht schlauer machte.
Die Ankunft in Hamburg Hauptbahnhof verwirrte ihn völlig: Zahllose hastende, drängelnde, schimpfende, lachende, bettelnde,weinende, immer aber rücksichtslose Menschen schubsten und stießen einander oder gingen achtlos aneinander vorbei, und dieses Gewimmel überlagerten scheppernde Lautsprecheransagen.
Manfred tat, was er schon lange nicht mehr getan hatte: Er schmiegte sich schutzsuchend an Tumu. „Mama, ich will hier weg!“
„Ich auch!“ seufzte Tumu aus Herzensgrund. „Sag uns schnell, wo der Zoo ist, zu dem du willst. Dort ist es bestimmt ruhiger.“
„Aber ich weiß doch gar nicht, wie man da hinkommt… Vielleicht sollten wir einfach loslaufen und suchen?“
„Keine gute Idee!“ kritisierte Bärdel. „Hamburg ist riesengroß; wir würden uns nur die Füße wundlaufen und nichts finden. Wahrscheinlich müssen wir sogar nochmal mit der Bahn fahren. Kommt, da vorne ist eine Srteckennetzkarte.“
Manfred hatte keine Ahnung, was eine „Streckennetzkarte“ sein könnte, und als er davor stand, wurde er auch nicht schlau daraus. Verschiedenfarbige Linien zogen sich, von wenigen Zentren ausgehend, kurvig über ein überwiegend rechteckiges Grundmuster.
„Na, wohin müssen wir?“ fragte Bärdel. Niemand, noch nicht einmal Tumu, vermochte die gespielte Unschuld in seiner Stimme zu hören.
„Keine Ahnung…“ Manfred zuckte die Schultern. „Erstens verstehe ich diesen Plan nicht. Und zweitens weiß ich noch nicht einmal, wie der Zoo heißt.“
„ich auch nicht“, log Bärdel. „Aber laß uns mal nachdenken. Ein Zoo ist was für‘s Volk. Und ein anderes Wort für ,Zoo‘ ist ,Tierpark‘ – ein Hoch auf den Euphemismus. Hmmm – was hältst du von ,Volkspark‘?“
Bärdel wußte, wie gefährlich sein Spiel war – schließlich stand auch ,Hagenbecks Tierpark‘ fettgedruckt auf der Karte, und dumm war Manfred wahrlich nicht. Aber Manfred ließ sich zum Glück irreführen.
„Prima, Papa!“ jubelte er. Da steht es ja: „‘Volkspark‘. Also steigen wir jetzt in die S 21, was immer das auch ist, und schwuppdiwupp sind wir da.“
Dumm war Manfred wahrlich nicht.
Nach ein paar Stationen mit der S-Bahn stand die Familie auf der Schnackenburgallee. Genauer gesagt: Sie versuchte, dort zu stehen. Tatsächlich nämlich wurde sie herumschubst von tausenden von Menschen, die etliche Gemeinsamkeiten hatten: Sie waren jung und männlich, trugen trotz der sommerlichen Wärme Mützen und Schals in Weiß und Blau, grölten laut und unmelodisch im Chor und waren nicht mehr nüchtern, ein Zustand, den sie durch exzessive Benutzung zahlloser Bierflaschen und -dosen zu vertiefen versuchten. Alle strömten in dieselbe Richtung, und die kleinen Bären konnten sich ihrem Sog nicht entziehen. Sie wurden einfach mitgerissen.
Alle drei hatten Mühe, nicht in Panik zu geraten. Bären sind nun einmal gemütliche Leute, die alles Laute verabscheuen und die Langsamkeit lieben. Zudem haben sie gelernt, den Menschen aus dem Weg zu gehen, um ihre Ruhe zu haben. Aber hier konnten sie niemandem aus dem Weg gehen, es gab einfach keinen Platz dafür. Es gab noch nicht einmal genügend Platz, um zu sehen, wohin sie gedrängt wurden.
Tumu griff mit der rechten Pfote nach Bärdel und suchte mit der linken nach Manfred. Gut, hier mußten sie sich wohl erst mal eine Weile mitziehen lassen, bis sich irgendwann eine Chance ergab, sich aus dem Pulk zu lösen. Währenddessen aber wollten sie sich wenigstens nicht trennen lassen.
Bärdel drückte ihre Rechte beruhigend, aber ihre Linke blieb leer. Wo war Manfred?
„Halt!“ sagte Tumu.
„Das geht leider gerade nicht“, versuchte Bärdel zu scherzen.
„Es muß aber“, meinte Tumu, und Bärdel hörte aus ihren Tonfall, daß es ernst war. „Manfred ist weg!“
„Heilige Tussi“, murmelte Bärdel. Ein Mensch hätte jetzt vermutlich ‚Scheiße‘ gesagt. Und dann seufzte er: „Also los, kugeln!“
Bären verfügen über eine wirkungsvolle Technik, die dazu geeignet ist, selbst eine Stampede zu überleben. Sie rollen sich zusammen und spannen all ihre Muskeln an. Auf diese Weise können sie alle Tritte und Püffe überstehen, ja, sie können sich, während die Büffelherde oder was auch immer über sie hinwegstapft, sogar noch langsam vorwärtsbewegen. Ganz ohne blaue Flecke geht es dabei jedoch nicht ab. (Evolutionsbiologisch ist nicht ganz klar, wozu diese seit Urzeiten vorhandene Fähigkeit der Bären dient. Bären, Büffel und überhaupt alle Tiere sind einander immer klug aus dem Weg gegangen. Früh eine Fähigkeit zu entwickeln, für die erst in einer späten Phase der Evolution – nämlich mit dem Auftauchen des Homo sapiens sapiens – Bedarf besteht, widerspricht allen Grundsätzen des Darwinismus. Kennten Theologen das Problem, würden sie sich sicher damit beschäftigen.)
Bärdel und Tumu kugelten. Die Menschen über ihren angespannten Körpern fluchten über die Hindernisse, über die sie stolperten, und versetzten ihnen manchen schmerzhaften Tritt mit stahlbewehrten Stiefelspitzen, aber sie kamen voran. Nach wenigen Metern lagen sie vor einem viereckigen Loch. Vorsichtig hob Bärdel den Kopf.
Tumu tat es ihm nach.
„Ob Manfred da reingefallen ist?“ fragte sie.
„Möglich. Er kann aber auch abgedrängt worden sein, bevor du ihn anfassen konntest.“
„Nein. Er ist da unten. Ich spüre das!“
Bevor Bärdel eine Chance hatte, etwas zu sagen oder zu tun, war Tumu in das Loch gesprungen. Er schob sich ein Stück vor und lauschte in den schwarzen Schacht hinunter. Nichts. Was sollte er tun?
Er holte tief Luft und sprang hinterher.

Nur zwei oder drei Meter mußte er in freiem Fall verbringen, dann traf sein gut gepolsterter Hintern auf Beton. Auf einer steilen schiefen Ebene sauste er abwärts. Wo würde er landen? Wahrscheinlich in der Kanalisation. Vorsorglich hielt er sich die Nase zu. Einerseits war das eine scheußliche Idee – Bären haben einen hochentwickelten Geruchssinn, und Manfred, Tumu und er würden Wochen brauchen, um ihren Pelz so gründlich zu säubern, daß sie sich selbst wieder riechen konnten. Andererseits würden sie mit Hilfe der Kanalratten auch wieder aus dem stinkenden Verdauungstrakt der Stadt herausfinden. Aber wenn seine Vermutung stimmte, müßte er eigentlich Verwesungsgeruch wahrnehmen – und das war nicht so. Stattdessen sah er einen hellen Lichtschein.
Bruchteile von Sekunden später landete er unsanft, aber unverletzt. Vor ihm standen Tumu und Manfred.
„Tussi sei Dank,“ murmelte er und rappelte sich auf. „Konntest du denn nicht aufpassen?“ raunzte er Manfred an. „Wo sind wir hier überhaupt?“
„Ich habe aufgepaßt, aber jemand hat mich geschubst, und da bin ich gefallen. Wo wir sind, weiß ich nicht. Gerade als ich anfangen wollte mich umzusehen, kam Mama, und direkt danach bist du runtergepurzelt.“
Fast schämte Bärdel sich ein bißchen: Die sachliche Antwort seines Sohnes war viel bärischer als sein eigenes unbeherrschtes Verhalten. Aber auch Bärenvätern fällt es schwer, sich zu entschuldigen, und deshalb meinte er nur: „Na, dann wollen wir mal sehen, wie wir hier wieder rauskommen!“

Eine Untersuchung ihrer Umgebung machte die drei Bären auch nicht schlauer. Über ihnen war die Schwärze des Schachtes, durch den sie heruntergefallen waren. Ein kühler Luftzug wehte sie von oben an. Sie befanden sich in einem schmalen Tunnel, dessen Ende nicht zu erkennen war. Wandten sie sich nach links, kümmte er sich nach rechts; schauten sie nach rechts, nahmen sie eine Linkskrümmung wahr.
„Möglicherweise eine kreisförmige Anlage,“ stellte Tumu fest, und ihre Begleiter nickten. Eine ,Anlage‘ war es zweifellos. Auf dem Boden des Gangs waren Schienen installiert. In der Nähe der Wand verlief eine wenige Zentimeter dicke Leitung, die aber nur über kurze Strecken sichtbar war. Viereckige und sechseckige Kisten in Rot, Blau und Gelb waren in kurzen Abständen über die Leitung gestülpt. Auf einem Bord kurz unter der Decke gab es eine Ansammlung von Kabelsträngen.
Falls Tumus Vermutung von einer kreisförmigen Anlage stimmte, dann waren Leitung, Kisten und Kabel ,innen‘. ,Außen‘ an der Wand hingen Kästen, die nichts zeigten außer einem Schlüsselloch und einer in den Gang gestülpten kleinen Glasblase.
„Komische Gegend!“ meinte Manfred. „Hast du so was schon mal gesehen, Papa?“
Bärdel hätte gerne ,Ja‘ gesagt, denn er hatte viel gelesen und war durchaus eitel, obwohl er es ungern zugab. Aber hier mußte er passen.
„Nie,“ gab er zu. „Und ich habe nicht den Schimmer einer Ahnung, wozu das hier dient. Aber eines ist klar: Menschen haben das gemacht. Manfred, unser Wochenendausflug wird erfolgreich. Wir lernen was über den Menschen!“
„Super!“ jubelte Manfred. „Laßt uns anfangen! Ein Gang ist dazu da, erforscht zu werden!“
Es schien völlig egal, in welche Richtung sie gingen, und deshalb folgten Tumu und Bärdel ihren Sohn, als er sich nach links wandte. Etwa hundert Meter wanderten sie geradeaus, dann machte der Gang eine Rechtskurve. Abgesehen von der Krümmung änderte sich an der Umgebung nichts.
Psychologisch verhalten sich Bären in einigen Beziehungen nicht anders als Menschen, auch wenn sie grundsätzlich vorsichtiger sind. Beide Spezies gewöhnen sich schnell an unbekannte Umgebungen und schließen aus der momentanen Abwesenheit von Gefahr auf deren Nichtexistenz.
Schon nach wenigen Minuten schlenderten die Drei durch den Tunnel, als seien sie zu Hause in Bärenleben, und unterhielten sich lautstark. Manfred genoß das Abenteuer, und Bärdel war sich inzwischen sicher, daß sie sich in einer ringförmigen, also überschaubaren Anlage befanden. Es galt nur noch, einen Ausweg zu finden – mit oder ohne Kanalratten. Tumu aber hatte sich einen Rest Skepsis bewahrt, sie lauschte nach wie vor mit aufgestellten Ohren auf ungewohnte Geräusche. Sie tat gut daran.
„Pssst!“ zischte sie plötzlich. Menschenmänner hätten das vermutlich als weibliche Hysterie abgetan und sich nicht darum gekümmert, aber Bärdel und Manfred blieben sofort wie versteinert stehen. Tumu legte die Pfote auf die Schnauze, dann legte sie sich selbst auf die Schienen. Die Vibration war deutlich, und jetzt hörten auch die Männer ein leises Sirren.
„Es kommt jemand!“
Sie konnten nicht ausmachen, in welche Richtung sich das Schienenfahrzeug bewegte, aber letztlich war das auch egal: Wenn es weiterfuhr, mußte es in einem Ring irgendwann bei ihnen vorbeikommen. Sie schauten sich um: Die Eltern auf der Suche nach einem Fluchtweg, Manfred auf der Suche nach einer Waffe. Manfred wurde fündig: Neben einem sechseckigen blauen Kasten lag ein Schraubenzieher. Tumu und Bärdel aber suchten vergeblich: Rechts und links waren nur türenlose Wände, und auf dem weit hinter ihnen liegenden Weg, auf dem sie hereingekommen waren, konnten sie nicht zurück.
„Na“, meinte Tumu ruhig, „dann bleibt uns nichts anderes übrig. Maßnahme Streichholz! Manfred, leg den blöden Schraubenzieher wieder hin!“
Bären können nicht nur beim Kugeln ihre Körper vor Knüffen und Püffen bewahren, sie können sich auch perfekt tarnen, indem sie sich lang und starr machen. Schon so mancher Jäger hat sie in dieser Pose für einen dicken Ast gehalten und ist achtlos auf der Pirsch an ihnen vorbeigeschlichen. Bis zu diesem Augenblick hätten die Bären sich allerdings nicht träumen lassen, daß sie diese Fähigkeit eines Tages brauchen würden, um als ein Kabel zu erscheinen.
Manfred hüpfte mühelos auf das Bord kurz unter der Decke, Bärdel half Tumu mit der altbekannten Räuberleiter-Technik und kletterte dann selbst hinterher. Sie streckten sich und verwandelten sich in ,Streichhölzer‘. Nur die Augen schienen noch zu leben.
Hier oben auf der Kabelablage konnten sie das Vibrieren der Schienen natürlich nicht mehr wahrnehmen, aber das Sirren wurde deutlich lauter. Etwas näherte sich.
Jetzt erst bemerkten sie, daß das Gefährt auf den Schienen nicht ununterbrochen unterwegs war, sondern zwischendurch stoppte. Nicht nur einmal, sondern häufiger. Als das Geräusch näher kam, hörten sie auch Laute in den Pausen. Es waren immer die gleichen: Zwei dumpfe Geräusche, ein metallisches Klicken, Scharren, dann wieder ein Klicken, und nach einer kurzen Pause abschließend wieder die beiden dumpfen Töne.
Erst als ihr ,Besucher‘ in Sichtweite war, konnten sie sich einen Vers darauf machen, wenn sie auch überhaupt nicht verstanden, was da vorging. In einem schienengeführten Elektrokarren saß ein Mann mit einem roten Schutzhelm auf dem Kopf. Immer, wenn er auf der Höhe eines Kastens an der Außenwand war, stoppte er sein Gefährt. Er stieg aus, ging zu dem Kasten, steckte einen Schlüssel hinein, drehte ihn und zog ihn wieder heraus. Wenn er das getan hatte, leuchtete die Glasblase an dem Kasten grün auf. Anschließend blickte der Mann sich aufmerksam um, bevor er zu seiner Elektrodraisine zurückging, und dann begann das Ganze von vorn.
Die Bären ließen ihn passieren und lösten sich erst aus ihrer Streichholzpose, als er außer Sicht- und Hörweite war.
„Was sollte das denn?“ fragte Manfred. Aber hierauf wußten auch seine Eltern keine Antwort und zuckten nur die Schultern. Letztlich hielten sie die Ereignisse für harmlos. Ihre Kenntnisse der menschlichen Konventionen sagten ihnen, daß grüne Lämpchen „keine Gefahr“ bedeuteten. Vielleicht hätten sie sich gewundert und wären unruhig geworden, wenn sie hätten bemerken können, was auf der anderen Seite des Ringes geschah.
Das Elektrovehikel war an einer Gittertür in der Außenwand angekommen. Der Fahrer stieg aus, ging durch die Tür nach draußen und verschloß sie hinter sich. Er wurde erwartet. Vier Männer in ebenfalls roten Schutzhelmen standen auf der anderen Seite. Sie hatten auch Schlüssel in der Hand. Fast zeitgleich steckten alle fünf ihre Schlüssel in fünf verschiedene Kästen und drehten sie. Fünf grüne Lämpchen leuchteten auf. Die Männer blickten einander befriedigt an und stellten ein leuchtend rotes Schild vor die Tür, bevor sie sich entfernten.
Doch davon wußten die Bären nichts.

Nach der Störung setzten sie ihren Erkundungsgang fort. Nichts hatte sich geändert, außer daß an der Außenwand jetzt ab und zu eine Glühbirne hinter grünem Glas brannte. Gespannt steuerten sie auf die nächste Kurve zu: Ob sich dahinter wohl etwas ändern würde?
Neugierig pirschte Manfred vorweg. Bärdel hatte ihm versprochen, daß sie etwas über die Menschen lernen würden, und er wollte der erste sein, der das Neue entdeckte. Das gelang ihm eher, als ihm lieb war. Etwas hob ihn plötzlich von den Füßen und ließ ihn mit unwiderstehlicher Gewalt auf einen gelben Kasten zusausen. Unsanft rumste er dagegen und blieb daran kleben. Obwohl er ein mutiger Jungbär war und Selbstbeherrschung gelernt hatte, konnte er nicht verhindern, daß er zuerst „Scheiße“ sagte und dann „Hilfe“ rief.
Tumu wollte ihm sofort nacheilen, aber Bärdel erwischte sie noch gerade rechtzeitig am Nackenpelz.
„Stop!“ sagte er. „Manfred hängt fest, aber sonst scheint ihm nichts zu fehlen. Vielleicht kriegen wir ihn zusammen los. Wenn du ihm allerdings nachläufst und auch von diesem merkwürdigen Kasten angezogen wirst, weiß ich nicht, ob ich euch beide werde befreien können. Also laß uns erstmal nachdenken.“
‚Nachdenken‘ hieß primär, Manfred zu befragen. Er berichtete das, was sie zum großen Teil selbst sehen konnten: Der gelbe Kasten hielt ihn am Hinterteil fest. Arme und Beine konnte er frei bewegen, aber auch mit der größten Anstrengung konnte er sich nicht von der Metallkonstruktion abstemmen.
„Manfred“, fragte Tumu, und ihre Stimme klang, als ob sie sich an etwas erinnere, „was hast du am Hintern?“
„Eigentlich nichts“, bekam sie zur Antwort. Die Stimme klang kleinlaut. „Nur den Schraubenzieher, den ich vorhin gefunden habe.“
„Wirf ihn weg!“ befahl Tumu.
Manfred begann sich zu winden. Es ist nicht leicht, einen zwanzig Zentimeter langen Gegenstand aus der Kimme zu entfernen, wenn beide Arschbacken fest an der Wand kleben. Tumu beobachtete seine vergeblich erscheinenden Bemühungen. Sie schienen aussichtslos. Sie setzte sich in Bewegung, um ihm zu helfen.
„Halt!“ befahl Bärdel.
Zornig blitzte Tumu ihn an. Welch herzloser Vater! Wie konnte er die Leiden seines Sohnes verlängern wollen! Sie beschloß, seinen Befehl zu ignorieren.
„Halt!“ Dieses Mal klang es so energisch, daß selbst Tumu einhielt. Aber sie spürte, daß ihre angestaute Aggression sich in einer Schimpfkanonade entladen mußte. Sie holte tief Luft, aber Bärdel kam ihr zuvor.
„Zum dritten Mal: Halt! Wenn es dieser Schraubenzieher ist, der Manfred an der Wand festhält, dann haben wir es mit Magnetismus zu tun, und wenn du ihn anfaßt, dann hängst du vielleicht genauso fest wie er. Er muß es allein schaffen!“
Tumu erinnerte sich an die Menschenmärchen von Sindbad dem Seefahrer, in denen der Magnetberg eine große Rolle spielte, und verstand. Sie blieb stehen.
Manfred, der den Dialog seiner Eltern verfolgt hatte, begriff. Er mußte seinen Körper so bewegen, daß er den Kontakt zu dem metallenen Schraubenzieher verlor. Angesichts seiner gegenwärtigen Position hieß das: Er mußte an dem gelben Kasten senkrecht hochrobben.
Er versuchte es. Es war gar nicht so schwer, wie er gedacht hatte. Immer wenn ihn die Kräfte verließen, konnte er sich auf ,seinem‘ Schraubenzieher ausruhen, den er nach jedem Klimmzug ein Stückchen tiefer spürte.
Bärdel beobachtete sein Fortkommen genau. Als er schätzte, daß Manfred sich beim nächsten Aufwärtszug von dem Schraubenzieher lösen würde, kommandierte er:
„Zieh! Und spring!“
Manfred tat, wie ihm geheißen, und landete sicher auf dem Boden des Ganges. Einsam klebte der Schraubenzieher an dem gelben Kasten.
„Puh“, sagten alle Drei wie aus einem Mund. Die Ohrfeige, die Manfred erwartet hatte, blieb ihm erspart – seine Eltern waren viel zu erleichtert, um ihn zu bestrafen. Ein neues Abenteuer ihres vorwitzigen Sohnes wollten sie allerdings nicht riskieren. Manfred bekam die strikte Anweisung, hinter seinen Eltern zu bleiben, und da ihm der Schreck noch in den Knochen steckte, hielt er sich sogar daran.

Vorsichtig tappte jetzt Bärdel voran. Dichtauf folgten Tumu und Manfred – allerdings nicht auf Plüschfühlung. Zwar hatte jetzt keiner von ihnen mehr etwas Metallenes an sich, aber vielleicht gab es vor ihnen noch eine unbekannte Gefahr, die alles erfaßte, was miteinander Kontakt hatte.
Sie befanden sich in einer starken Krümmung des Ganges. An der Einrichtung hatte sich nichts verändert. Vor ihnen allerdings schien die Sonne aufzugehen. Ein gleißender Lichtschein drang hinter der nächsten Biegung hervor. Bärdel ließ sich davon wenig irritieren: Licht, dachte er, kann mir nichts anhaben. Ungeschützt trat er in den vollen Strahl.
Nein, vor ihm ging nicht die Sonne auf. Vor ihm erstrahlte ein Stern, tausendmal heller und farbenprächtiger als die harmlose, ferne kleine Sonne. Er leuchtete nicht nur in dem Gelbweiß des heimischen Gestirns, sondern in allen Farben des Regenbogens und noch in vielen mehr, für die Bärdel keine Namen gewußt hätte, selbst wenn er lange Zeit gehabt hätte, sie zu suchen.
Aber er hatte keine Zeit. Der Lichtstrahl war nicht nur unbeschreiblich schön und farbenprächtig, er war auch unerträglich heiß. Bärdel spürte, daß sein Plüsch in Flammen aufgehen würde, wenn er hier auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu lange verharrte. Wohin?
Zurück konnte er nicht. Tumu stand ihm fast auf den Hinterpranken, und ebenso dicht hinter ihr war vermutlich Manfred. Der Gang war so eng, daß alle drei hätten zurückgehen müssen, um ihn aus der Gefahrenzone zu bringen. Erklärungen, Befehle? Dauert alles viel zu lange. Umrennen? Funktioniert nicht.
Bärdel spurtete los – und war verschwunden.

Tumu erstarrte. Eben waren sie noch vorsichtig, aber gleichmäßig langsam vorwärtsgetrottet, und plötzlich war Bärdel weg. Manfred, der nichts sehen konnte, stupste sie ungeduldig in den Rücken.
„Was ist los?“
„Papa ist weg!“
Manfred schossen Gedanken über hysterische Frauen durch den Kopf, die er aber wohlweislich für sich behielt.
„Das kann doch gar nicht sein! Laß mich mal sehen.“
In ihrer Verwirrtheit unternahm Tumu nichts dagegen, daß Manfred sich an ihr vorbeidrängelte. Tatsächlich – kein Bärdel, nur ein sehr heller Lichtschein hinter der nächsten Kurve. Vorsichtig ließ er sich nach Art der Bärenvorfahren auf alle Viere nieder, schob sich langsam vorwärts und steckte den Kopf um die Ecke. Blitzschnell zog er ihn wieder zurück.
„Was ist da?“ wollte Tumu wissen.
„Licht. Und viel Hitze.“ Manfred hielt seinen heißen Kopf in den Tatzen. Wenn sein Vater da vorne war, war er entweder verbrannt, oder er hatte einen Ausweg gefunden. Aber es gab doch keinen Ausweg aus diesem Gang… Also mußte Bärdel in Flammen aufgegangen sein.
Haltlos begann Manfred zu weinen: „Mama, Papa ist tot! Und wir sind hier gefangen!!“
Tumu nahm ihn in den Arm. Zwar hatte auch sie Angst, aber die war nicht stark genug, zwei ihrer wesentlichen Fähigkeiten zu zerstören: Intuition und Denkfähigkeit. Sie ahnte, was ihrem Sohn durch den Kopf schoß.
„Der Gang muß einen Ausgang haben. Woher sollte sonst vorher der Mann gekommen sein, der mit dem Schienenfahrzeug unterwegs war? Glaubst du, der fährt hier immer im Kreis? Und wenn Papa verbrannt wäre, würden wir es riechen – verbrannter Plüsch stinkt entsetzlich!“
Manfred schämte sich – er hatte die Nerven verloren, und das vor einer Frau! Aber insgeheim war er stolz auf seine Mutter. Er wischte sich die Augen trocken und nickte.
Tumu sah, daß er wieder imstande war zu denken.
„Was genau hast du gesehen?“ wollte sie wissen.
„Der Gang da vorne krümmt sich immer weiter nach rechts. Irgendwo da vorne ist eine Lichtquelle, die strahlt stärker als zehntausend Sonnen. Und sie ist so heiß, daß…“
„Stop!“ sagte Tumu. „Wenn die Lichtquelle rechts ist und Papa nicht verbrannt ist – was er nicht ist – dann muß er nach links gelaufen und ihr ausgewichen sein. Nach links oder vielleicht auch geradeaus – jedenfalls immer an der linken Wand lang. Da muß ein Ausgang sein!“
Manfred nickte. In wortlosem Einverständnis machten beide kehrt und gingen zehn Schritte zurück. Dann drehten sie sich wieder um. Tumu faßte Manfreds rechte Hand und stellte sich schräg vor ihn. Gleichzeitig spurteten sie los.
Der Lichtstrahl machte sie blind, sobald sie in ihn eintauchten, aber Manfred hatte in dem jetzt etwas breiteren Gang zu seiner Mutter aufgeschlossen und leitete sie, indem er seine linke Pfote an der Wand entlanggleiten ließ. Blitzschnell durchquerten sie so die gefährliche Strahlung. Da Tumu ihn mit ihrem Körper abschirmte, bemerkte Manfred kaum etwas davon, Tumu dagegen hatte das Gefühl, halbseitig gegrillt worden zu sein.

„Da seid ihr ja endlich!“ Die Worte waren dürr, aber aus Bärdels Ton sprach unendliche Erleichterung. Zärtlich breitete er die Arme aus, aber Tumu wehrte ab.
„Später! Jetzt müssen wir erstmal sehen, wo wir gelandet sind!“
Die Bären standen in einer Art geradem Stichkanal, in dem es unnatürlich, aber nicht unerträglich warm war. Das tödliche Licht hinter ihnen drang hier nicht hinein. Vor ihnen war der Gang verschlossen, aber das war nur eine Art Fliegengitter ohne Schloß, einseitig an einem Scharnier befestigt.
„Na, dann wollen wir uns mal britisch verhalten“, meinte Bärdel.
„Hä?“ machte Manfred.
„Forward ever, backward never!“ schmunzelte sein Vater, ging voran und öffnete das Gitter.

Unbehelligt gelangten die Drei hindurch und kamen in eine große, mit häßlichen Dingen vollgestellte Halle. Kisten, Kästen, Apparaturen mit Skalen, Monitore und Schreibtische waren auf viele containerartige Gehäuse verteilt. Der Platz für all diese Geräte schien nicht auszureichen, so daß manche auf Emporen installiert waren, zu denen Treppen führten. Das sagte ihnen ein erster Orientierungsblick, dann aber fiel ihr Augenmerk auf das, was sie unmittelbar vor sich fanden.
Ein Mensch saß in seinem Gehäuse an seinem Schreibtisch und manipulierte die Schalter und Drehknöpfe etlicher Geräte.
„Oh!“ sagte Tumu. Sie war überrascht, so plötzlich vor einem Menschen zu stehen, und hatte den Laut nicht unterdrücken können.
„Ja, ja, da staunen Sie!“ antwortete der Mensch, ohne sich umzudrehen. „Ist schon phantastisch, was wir hier machen. ‚Zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält.‘ Bald wissen wir’s. Glauben Sie bloß nicht, daß meine Forschung im Infrarotbereich dabei unwichtig ist. Alles ist wichtig. Ich meine festgestellt zu haben, daß Viren gerade bei diesen Wellenlängen…Moment mal!“ Er starrte auf seine Skalen, drehte wild an seinen Knöpfen. „Schade, doch nicht! Und ich dachte gerade…“ Er seufzte. „Meistens wollen die Teilchen anders als ich. Die Theorie ist gut, aber die Praxis funktioniert nicht. Haben Sie irgendwelche Fragen?“
Er wandte sich seinen Besuchern zu. Sein Blick traf auf eine Gruppe von drei vor Furcht erstarrten Plüschbären. Er strich sich über die Stirn, dann blickte er auf die Uhr.
„Sechs,“ murmelte er. „Jetzt kommen doch gar keine Besucher. Ich sollte doch mal eine Pause machen – wenn man anfängt, Plüschbären zu sehen, ist es höchste Zeit dafür.“
Sprach‘s, stand auf und ging.

„Und jetzt?“ fragte Manfred.
„Gehen wir“, antwortete Bärdel. „Ich kann mich den Worten dieses Herrn nur anschließen: Es ist höchste Zeit dafür.“
Unbehelligt spazierten die Bären durch die Halle und fanden den Ausgang. Unbehelligt gingen sie weiter über eine große Freifläche und fanden ein Tor. Als sie es passiert hatten, drehten sie sich um und lasen das Schild, das am Eingang prangte: Deutsches Elektronen Synchroton (DESY).

„Was war das denn nun?“ fragte Manfred, als sie nach kurzer U-Bahnfahrt wieder im Zug nach Bärenleben saßen und darauf hofften, daß niemand kam, um ihre nicht vorhandenen Fahrkarten zu kontrollieren.
„Hast du doch gelesen: Das war Daisy!“ scherzte Tumu.
„Danke! Wir waren also beim Gänseblümchen auf der Wiese, und vermutlich hat da auch noch ein Hasi gehockt, und ein Mädchen namens Petra oder Doris hat die Gänseblümchen gepflückt. Verarschen kann ich mich selber!“
„Drück ich nicht so vulgär aus!“ rügte Bärdel. „Wir wissen auch nicht, was das war. Aber wir haben bestimmt wieder etwas über den Menschen gelernt. Wir wissen nur noch nicht, was. Kommst du morgen mit in die Bibliothek?“
„Klar!“ Manfred stimmte begeistert zu.

 


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