Bärenbesuch

Es schien ein ganz normaler Abend in Bärenleben zu sein. Am Ende der Höhlenversammlung, in der sie die Neuigkeiten des Tages ausgetauscht und einander Geschichten erzählt hatten, gähnten alle Bären und auch das Schwein zufrieden und müde und rappelten sich auf, um ihre Schlafplätze aufzusuchen. Kulle jedoch verschaffte sich in der allgemeinen Unruhe Gehör.

PD Dr. Kulle

„Stop!“ sagte er.“Ich möchte noch eine kurze Ankündigung machen. Morgen früh werde ich euch verlassen. Vielleicht nur für ein paar Stunden, möglicherweise aber auch für einige Tage. Ich will in die Hauptstadt. Dort hält sich zur Zeit ein wichtiger Bär auf, und den möchte ich treffen.“
In das verblüffte Schweigen, das dieser Ankündigung folgte, platzte das Schwein hinein.

Schwein

„Wieso? Gibt es wichtigere Bären als euch?“
Kulle war sichtlich geschmeichelt, denn er strich sich liebevoll über seine Fliege – ein untrügliches Zeichen von Eitelkeit.
„Nun ja – selbstverständlich sind wir Bären in Bärenleben hier wichtig, nicht zuletzt die Intellektuellen unter uns.“
Er schaute sich aus den Augenwinkeln um und prüfte, ob jemand die Anspielung, die einen indirekten Angriff auf die nichtintellektuellen Bären enthielt, verstanden hatte. Aber niemand runzelte die Stirn. Man kannte hier Kulles Überheblichkeit und nahm sie schmunzelnd hin, oder man verstand seine nicht immer einfachen Aussagen tatsächlich nicht.
„Aber es gibt auf dieser Welt einen Bären, den niemand von uns kennt. Er ist ein Einzelgänger – völlig bärenuntypisch. Er bewegt sich viel unter den Menschen, ohne daß sie ihm zur Gefahr werden. Er mischt in ihren sogenannten höchsten Kreisen mit – in der Politik, in der Wirtschaft, bei wichtigen Konferenzen. Er scheint es zu schaffen, die Entscheidungen der Menschen in seinem Sinne zu beeinflussen – und das ist viel mehr, als wir hier können. Deshalb möchte ich ihn unbedingt treffen.“
„Wer ist das denn?“
„Woher weißt du von ihm?“
„Er heißt Grizzy, und ich habe kürzlich in einer Zeitschrift ein Interview mit ihm gelesen. Der dehländische VIP-Aufenthaltskalender im Internet hat mir verraten, daß er sich heute und morgen in der Hauptstadt aufhält. Natürlich, wie es seine Art ist, im ersten Hotel am Platze, also im Adlon.“
„Was kostet denn so eine Nacht im Adlon?“ wollte das praktisch veranlagte Schwein wissen.
„Das kommt darauf an. 500 DM fürs Doppelzimmer, schätze ich mal, und bis zu 2000 DM für eine Suite. Grizzy hat garantiert eine Suite gebucht.“
„Ist das viel oder wenig Geld?“ fragte eine alte Bärin, die zeitlebens nicht mit diesem merkwürdigen Tauschmittel, das die Menschen so hoch schätzten, in Berührung gekommen war.
Die meisten Anwesenden waren ähnlich ratlos wie sie, aber Manfred hatte eine Antwort:
„Wenn ich meine Computer ehrlich erworben hätte, hätte ich für ein einfaches Modell ungefähr 2000 DM bezahlen müssen. Soviel kostet ja schon der neue iMac.“
Niemand in der Runde wußte, was der neue iMac war, und alle gingen diskret über die Bemerkung hinweg, derzufolge Manfred seinen Computerpark nicht auf legale Weise aufgebaut hatte. Allen aber bleib der Eindruck: 500 DM für ein Bett in der Nacht, oder gar 2000, waren verflixt viel Geld.
„Woher hat dieser Grizzy so viel Geld?“ erkundigte sich Tumu mit tiefen Falten auf der Stirn. Den Verdacht, der ihr gerade gekommen war, mochte sie überhaupt nicht. Ob er mit den Menschen gemeinsame Sache machte?
„Ich weiß es nicht.“ Die Antwort fiel Kulle sichtlich schwer. Er gab nun mal nur ungern zu, etwas nicht zu wissen.
„Aber ich möchte es gern herausbekommen.“
„Das und dieser Bär überhaupt interessiert mich aber auch! Uns alle wahrscheinlich!“ Das Schwein war vor lauter Aufregung purpurrot angelaufen, den es hatte es noch nie gewagt, im Kreise seiner Gastgeber eine eigene Meinung zu vertreten.
„Warum laden wir ihn nicht einfach nach Bärenleben ein? Er könnte doch hierher kommen, nachdem er mit seinen Geschäften in der Hauptstadt fertig ist.“
Zustimmendes Gebrumm erhob sich. Kräftige Pranken schlugen dem kleinen Schwein anerkennend auf die Schultern, so daß es japsend zu Boden ging. Dennoch strahlte es angesichts der allseitigen Anerkennung über das ganze Gesicht.
Kulle jedoch war anderer Meinung und äußerte Bedenken.
„Ich weiß nicht…“ sagte er langsam.“Dieser Grizzy ist ein Einzelgänger, wie ich schon erwähnte, und dem einfachen Bärenleben längst entfremdet. Ich glaube nicht, daß er bereit sein wird, den Komfort, an den er gewöhnt ist, gegen das Leben bei uns einzutauschen, und sei es auch nur für kurze Zeit.“
Bärdel schmunzelte. Schließlich kannte er Kulle lange und gut genug, um ihn zu durchschauen.

Baerdel

„Und unser hochgeschätzter Freund Kulle würde diesen Luxus auch gerne einmal genießen, und sei es auch nur für kurze Zeit, wie Du eben so schön formuliert hast. Im Geiste spazierst Du doch bereits durch das Foyer des Adlon oder sitzt mit diesem Grizzy an der Bar und führst hochpolitische Gespräche. Ich würde Dir das ja gerne gönnen, aber ich finde den Vorschlag des Schweins besser. Wir sollten Grizzy einladen. Wenn er ablehnt, zu uns zu kommen, fährst Du zu ihm in die Hauptstadt.“
„Superidee!“ jubelte Manfred. Ich schicke ihm gleich ein email!“
Kulle grummelte zwar, aber gegen diesen Vorschlag fielen ihm keine Argumente mehr ein. Jetzt brachen alle wirklich auf und gingen schlafen. Nur Manfred verbrachte noch ein paar Minuten am Computer. In demselben Moment, in dem er fertig war, ging im Hotel Adlon eine Nachricht ein.

betrifft: Bärenbesuch
Alle Bewohner von Bärenleben laden Dich hiermit herzlich in unser Dorf ein, sobald Du kommen kannst. Wir haben von Dir gehört und sind sehr neugierig auf Dich. Wenn Du zusagst, werden wir Dir verraten, wie Du uns findest. Wir leben nämlich vor den Menschen versteckt. 😉 im Auftrag aller Manfred.

Am nächsten Morgen war die Antwort bereits eingegangen. Auf dem Bildschirm erschienen die Worte:

betrifft: Bärenbesuch
Schönen Dank für die Einladung. Ich nehme hier gerade an Gesprächen zwischen der dehländischen Regierung und der Atomindustrie teil. Das dürfte zwei oder höchstens drei Tage dauern. Anschließend komme ich gerne zu Euch. Eine Wegbeschreibung brauche ich nicht – ich weiß, wo Bärenleben ist. 😉 Grizzy

Manfred, der als erstes am Morgen immer seine Post abholte, wie er das nannte. verbreitete die Nachricht sofort. Unruhe war die Folge.
„Woher weiß dieser Bär, wo wir wohnen?“
„Was ist, wenn er uns verraten hat – dann sind wir den Menschen schutzlos ausgeliefert!“
„Er braucht uns noch nicht einmal absichtlich zu verraten! Wenn er hier mit einem Privathubschrauber einfliegt, ist das für die Menschen Information genug! Oder wie will so ein degenerierter Bär sonst zu uns kommen?“
Bärdel bemühte sich redlich, die Wogen zu glätten.
„Nun mal langsam“, sagte er. „Anscheinend weiß dieser Grizzy, wo wir leben – nun gut. Wenn er uns hätte verraten wollen, hätte er es also längst tun können. Und vorsichtig wird er auch sein – wer sich so lange und erfolgreich unter den Menschen bewegt wie er, muß das einfach. Wir sollten uns also erstmal nicht aufregen. Im übrigen halte ich es mit diesem Menschen, den Kulle so häufig zitiert. Der hat doch mal gesagt, daß den Menschen zum richtigen Zeitpunkt für selbstgemachte Probleme immer die richtigen Lösungen einfallen, oder so ähnlich. Was für die Menschen gilt, trifft auf uns Bären allemal zu!“
Kulle nickte zögernd und murmelte etwas von Karl Marx und dem für das 19. Jahrhundert typischen Optimismus in seine Fliege, aber die meisten Bären registrierten nur das Nicken. Allmählich beruhigten sie sich. Das bedeutete jedoch keineswegs, daß sie zur üblichen Tagesordnung übergingen.
„Gut, Bärinnen und Bären! Wir bekommen also hohen Besuch! Dessen müssen wir uns würdig erweisen. Die Männer sollten eine Organisationskonferenz abhalten, und für uns Frauen berufe ich hiermit sofort ein Back- und Kochtreffen ein!“
Das war Tumu, und ihr Vorschlag fand Zustimmung.
Sie berieten jeweils zwei Stunden lang und arbeiteten hinterher zwei volle Tage. Danach war Bärenleben so sauber wie noch nie. Auf dem zentralen Dorfplatz prangte ein Partyzelt, in dessen Mitte ein Bett mit Matratze, Daunendecken und weißer Satinbettwäsche einladend aufgeschlagen war. An kühlen schattigen Plätzen und in heißen Erdöfen warteten Köstlichkeiten für ein opulentes Festmahl.
Es versteht sich von selbst, daß die Menschen, die in der näheren und weiteren Entfernung von Bärenleben wohnten, den einen oder anderen Besitz vermißten. Aber keiner von ihnen erstattete Anzeige. Was da verschwunden war, waren keine sogenannten Wertgegenstände. Die Diebe, vermuteten sie, waren Obdachlose oder vagabundierende Banden aus Osteuropa. Mit den ersten hatten sogar die meisten Menschen Mitleid, und den zweiten, so sagte ihnen ihre Erfahrung, kam man sowieso nicht auf die Schliche.
Nachdem sie fertig waren, warteten die Bären. Sie lauschten auf das Flap-Flap eines Helikopters oder auf sich nähernde Sirenen einer Polizeieskorte, aber nichts dergleichen ließ sich hören. So gingen sie schließlich schlafen.
Auch am nächsten Morgen schien alles unverändert. Sie sahen sich um, schnupperten in die Sommerluft, die wie immer roch und schmeckte, zuckten mit den Schultern und machten sich endlich daran, ihrer üblichen Beschäftigung nachzugehen. Das hieß vor allem Fressen – in den letzten Tagen waren sie vor lauter Arbeit kaum dazu gekommen. Hungrig waren sie jetzt alle.
Manfred und seine Freunde machten sich in die Himbeerhecken auf, die in zehnminütigem zügigem Bärentrab zu erreichen waren. In gemütlichem Bärentrott dauerte der Weg eine halbe Stunde, und das war den älteren Bären meist zu lang. Die Jungbärenhorde hatte die Sträucher deshalb in der Regel für sich.
In der Regel.
Als sie sich heute den süßen Früchten näherten, hörten sie schon von Ferne lautes Knacken von Zweigen und ein kräftiges Schmatzen. Wie auf Kommando blieben alle stehen.
„Da ist jemand!“ flüsterte Manfred völlig überflüssigerweise.
„Ein Mensch!“ sagte ein Jungbär, der kaum das Halbstarkenalter erreicht hatte.
Auch diese Bemerkung war unnötig. Wer sollte es sonst sein?
„Okay, strategischer Rückzug!“ kommandierte Manfred.“Wir warten, bis er fertig ist, und kommen später wieder!“
„Wie wollt Ihr wissen, wann ich fertig bin, wenn Ihr jetzt weggeht?“ röhrte eine tiefe Stimme aus dem Gebüsch. Das Schmatzen hatte aufgehört, aber nach wie vor hörten sie das Geräusch zerbrechender Äste.
Zum ersten Mal in seinem Leben gelang Manfred das, was er sich immer gewünscht hatte: Sein Gehirn arbeitete so schnell und so präzise wie ein Computer.
Dieses Wesen da im Gesträuch konnte kein Mensch sein, denn das menschliche Gehör war nicht sensibel genug, um die vorsichtige Annäherung der Bären zu registrieren. Außerdem benutzte das Wesen die Bärensprache, war also mit großer Wahrscheinlichkeit ein Bär. Die einzigen Bären aus Bärenleben hier waren er und seine Freunde; also war dieser Bär nicht aus Bärenleben. Zudem erwartete man in Bärenleben Bärenbesuch.
Manfred nahm all seinen Mut zusammen und ging, ohne eine Tarnung zu suchen, auf die Himbeerhecken zu. Als er unmittelbar davorstand, sagte er:
„Herzlich willkommen und guten Tag, Grizzy. Ich bin Manfred.“
Das Schmatzen setzte wieder ein, gefolgt von einem vernehmbaren Schlucken.
„Darauf eine Handvoll Himbeeren! Ich habe lange nicht mehr so etwas Köstliches gegessen. Du bist also vermutlich derjenige, der mir das email geschickt hat. Wartet, ich komme raus! Oder wollt Ihr reinkommen? Ich habe zwar einen bärenmäßigen Appetit, aber es sind genug Beeren für alle da!“
Manfred zog es vor abzuwarten, und seine Freunde waren immer noch starr vor Schreck. So teilte sich das Gestrüpp nach einer Weile, und tatsächlich erschien Grizzy.


Unwillkürlich wandten sich die Jungbären zur Flucht, und auch Manfred konnte nicht anders, als ein paar Schritte zurückzuweichen, obwohl er sich fest vorgenommen hatte, keine Furcht zu zeigen. Die dehländischen Braunbären hatten eben noch nie einen ausgewachsenen Grizzly zu sehen bekommen.
„Keine Panik!“ brummte Grizzy und grinste breit.“Ich komme in friedlicher Absicht, wie früher immer die weißen zu den roten Menschen zu sagen pflegten, bevor sie sie ermordeten oder im Alkohol ertränkten. Aber man kann sowas ja auch ernst meinen. Hier – ich habe Euch Himbeeren mitgebracht.“
Er streckte seine Pranken aus, mit den Handflächen nach oben. In den riesigen Händen glänzten zwei einladende Beerenhäufchen.
Manfred faßte zwei seiner Freunde, die neben ihm standen, legte die Arme um ihre Schultern und zog die Widerstrebenden mutig näher.
„Wir begrüßen Dich in unserem Dorf“, sagte er, als er unmittelbar vor Grizzy stand.“Oder fast – ein paar Minuten sind es noch. Dort wird man Dich angemessen willkommen heißen. Vorerst danken wir für Dein Geschenk.“
Er löste die Arme von seinen Freunden und griff in die riesigen Pranken. Als die anderen Bären sahen, daß Manfred nicht zerquetscht wurde, taten sie es ihm nach, und im Nu waren die Himbeeren verschwunden.

Grizzy und Manfred

Danach machten sie sich auf nach Bärenleben. Manfred ging voran, Grizzy ihm nach, und die anderen folgten in respektvoller Entfernung. Die Prozession steuerte schnurstracks auf den Dorfplatz zu.
Dort wedelte eine alte Bärin mit einem Holunderzweig Blütenblätter und kleine Aststückchen fort, die der Wind in der vergangenen Nacht dorthin geweht hatte.
„Hau ab!“ knurrte sie Manfred an, als er direkt auf sie zukam. Sie sah nicht auf.“Hier ist jetzt kein Durchgang. Alles für den hohen Gast!“
„Ich nehme an, ich bin der hohe Gast!“ Grizzy meldete sich kichernd zu Wort.
Die Jungbären blickten einander verunsichert an – wie konnte ein so großer Bär mit so hoher Stimme kichern?
Aber Grizzy kehrte sich nicht an ihre Verwunderung. Er hatte das Partyzelt erblickt. Es stand offen, und der Blick auf das Luxusbett im Inneren war frei.
„Für mich?“ Grizzy gluckste weiter.“Ich will Euch ja nicht zu nahe treten, aber Ihr ahnt gar nicht, wie ich sowas hasse. Als ich Eure Einladung erhielt, habe ich mich auf nichts mehr gefreut als auf ein hartes ordentliches Bärenlager in einer gemütlichen gemeinsamen Schlafhöhle. Ich hoffe, Ihr habt nicht auch noch extra für mich gekocht – ich habe Appetit auf Beeren und Wurzeln und Honig. Forellen, fette fleischige Forellen wären auch nicht schlecht, direkt aus dem Fluß, aber das ist in Dehland wohl nicht drin. Macht nichts. Auf jeden Fall, hoffe ich, kann ich bei Euch Urlaub vom gekochten Menschenfraß machen.“
Schon bei Grizzys ersten Worten hatte sich die Alte aufgerichtet. Sie sah an ihm hoch – er war bestimmt zwei Kopflängen größer als sie – und lauschte ihm wortlos. Als er fertig war, ließ sie ihren Zweigbesen fallen, wandte sich um und trottete ohne Kommentar davon.
Manfred verabschiedete sich mit einer unverständlichen gemurmelten Entschuldigung hastig, und da sie nicht wußten, was sie sonst tun sollten, folgten ihm seine Freunde.
Grizzy blieb einsam auf dem Dorfplatz zurück. Er sah sich um und schmunzelte. Dann ließ er sich auf die Hinterbacken fallen, kratzte mit seinen Krallen ein Stück des festgetretenen Lehms locker und begann, ein Sandgemälde nach Navahoart zu verfertigen. Es würde ein Weilchen dauern, bis die Bärenlebener zurückkehrten, dachte er.
Er hatte recht. Es verging geraume Zeit, in der die Bärenfrauen den größten Teil der Nahrung, die sie in stundenlanger Arbeit nach Menschenrezepten zubereitet hatten, vernichteten. Dabei schimpften sie laut. Auch dauerte es lange, bis sich die Bärenmänner angesichts der neuen Situation auf einem Empfang geeinigt hatten, der ihnen angemessen erschien.
Zuerst waren alle dafür, daß Bärdel die Begrüßung übernahm, aber er wehrte sich nach Kräften.
„Das ist Kulles Sache!“ meinte er.“Er kennt Grizzy, zumindest von Ferne, und auch er hat ihn falsch eingeschätzt. Wir würde es da erst mir ergehen?“
Da Kulle bereit schien und den anderen keine Gegenargumente einfielen, war die Entscheidung gefallen.
Grizzy saß gemütlich auf dem Dorfplatz und gab seiner Sandzeichnung gerade den letzten Schliff – er hatte sie ‚friedliche Bärenrückkehr‘ genannt – , als die Dorfbewohner sich von zwei Seiten näherten.
Von rechts kam die Frauen. Sie würdigten ihn keines Blickes, sondern zogen an ihm vorbei zum Zelt. Dort machten sie sich daran, das Bettzeug abzuziehen, das Bettgestell zu zerlegen und das Schutzdach abzubauen. Nach kurzer Zeit lag alles sauber gestapelt auf dem Boden.
Von links kamen die Männer, Kulle und Bärdel an der Spitze. Sie steuerten direkt auf Grizzy zu, und er stand respektvoll auf und wartete. Er war hier in einem traditionellen Bärendorf, und dort war es Sitte, daß die Gastgeber zuerst sprachen.
„Willkommen, Grizzy!“ sagte Kulle. Danach schwieg er.
Entsprechend der Bärenetikette war das eine äußerst kühle, unpersönliche Begrüßung, und Grizzy wußte das. Er wußte auch, warum das so war.
„Ich danke, Bewohner von Bärenleben, und bitte Euch um Entschuldigung. Ich habe alle Eure Erwartungen enttäuscht, und Ihr habt Euch meinetwegen unnötige Arbeit gemacht. Ich hoffe, Ihr gebt mir dafür nicht die Schuld. Es gehört zu meiner Lebensweise, daß niemand, der in der Welt der Menschen lebt, wirklich etwas von mir weiß. Was ich offiziell von mir verrate, soll und muß auf eine falsche Fährte führen. Ich habe es trotzdem gewagt, Eure Einladung anzunehmen, weil ich mich schon lange wieder einmal nach bärischer Lebensweise sehne, zumindest für eine Zeitlang. Deshalb bitte ich um Eure ganz selbstverständliche Gastfreundschaft, ohne allen Aufhebens.“
Die altmodische Schlußformel nahm Bärdel vorbehaltlos für Grizzy ein, aber Kulle gab sich nach wie vor skeptisch.
„Nochmals willkommen. Jeder Bär ist in Bärenleben willkommen.“
Bärdel runzelte ärgerlich die Stirn – das kam beinahe einer Beleidigung gleich. Grizzy gab sich jedoch unbeeindruckt.
„Wir geben zu, daß wir Dich nicht aus reiner Bärenliebe eingeladen haben. Wir erhoffen uns von Dir Information. Du lebst unter den Menschen, und…“
„…Und zwar in ihren höchsten Kreisen, und ich beeinflusse sie. Ich verfolge bestimmte Ziele. Selbstverständlich könnt Ihr darüber etwas hören. Wann wäre es denn recht?“
Kulle war ärgerlich wegen der unhöflichen Unterbrechung, aber andererseits wußte er, daß er selbst den Anlaß dazu gegeben hatte. Also riß er sich zusammen und sagte:
„Wie wär‘s mit heute Abend, in der Höhlenversammlung? Das entspräche gut bärischer Tradition, falls Du‘s vergessen haben solltest.“
Er hatte sich den letzten Satz nicht verkneifen können – wieder ein Angriff, und ein unnötiger dazu. Aber Grizzy ließ sich nichts anmerken.
„Gerne“, sagte er nur.
Am Abend in der Höhle war fast alles wie immer. Fast alles, denn alle hatten ihre gewohnten Plätze eingenommen. Allerdings saß in der Mitte der Versammlung ein riesiger grauer Bär, der freundlich um sich schaute. Die Bärenlebener waren verwirrt, denn dieser Bär mußte hungrig sein, und dennoch schien er heiter. Er konnte nichts gefressen haben, denn wann immer sie am Dorfplatz vorbeigekommen waren, hatten sie ihn gesehen, wie er dahockte und in sich versunken im Sand malte.
Tumu hatte Mitleid mit ihm und brachte ihm eine saftige Honigwabe, anmutig dekoriert auf einem Huflattichblatt.
„Iß!“ sagte sie.“Das ist Nervennahrung. Du wirst‘s brauchen können!“
Grizzy bedankte sich uns biß in die Wabe. Dabei blickte er sich um, zum ersten Mal bewußt. Er erkannte Manfred und seine Freunde, Bärdel, Kulle und die alte Bärin, die den Dorfplatz gereinigt hatte, und nickte ihnen zu. Als er das Schwein erblickte, mußte er lachen.
„Wer ist das denn?“
Tumu klärte ihn auf.
„Das Schwein? Es nennt sich selbst unseren politischen Asylanten. Das ist eine zwar ungewöhnliche, aber meiner Meinung nach richtige Einschätzung. Oder was hältst Du davon, wenn Dich andere umbringen wollen, nur weil Du bist, wie Du bist? Die Menschen wollten das Schwein schlachten, weil es ein Schwein ist.“
„Hm“, machte Grizzy.
Und dann eröffnete Bärdel offiziell die Versammlung.
„Bären“, sagte er,“wir haben heute einen ungewöhnlichen, illustren, prominenten Gast, der aber doch nicht so prominent ist, wie er sein könnte, weil er mit Vorliebe verdeckt operiert. Jeder von Euch weiß, von wem ich rede: Grizzy. Grizzy lebt alleine; zwar unter den Menschen, aber normalerweise ohne die Gesellschaft von Bären: also alleine. Grizzy ist von den Menschen akzeptiert, denn er besucht ihre wichtigsten Konferenzen – und er verfolgt dabei ein Ziel. Grizzy, wir wären Dir dankbar, wenn Du uns das näher erklären könntest.“
„Gerne“, sagte Grizzy.“Ich fange mal hinten an, wenn ich darf. Also: Ich will, daß die Menschheit von diesem Planeten verschwindet. Dazu tue ich mein Möglichstes.“
„Wenn ich mir das richtig überlege – und ich tue das zum ersten Mal – dann ist das gar keine so schlechte Idee“, bemerkte Tumu nachdenklich.
„Mama, Du spinnst ja! Und Du auch, Grizzy – entschuldige bitte, ich weiß, daß Du unser Gast bist. Woher soll ich denn meine Hardware und Software nehmen, wenn die Menschen weg sind?“ Manfred war empört.
Grizzy nahm die Herausforderung an.
„Wozu benutzt Du Computer und Programme?“
„Das ist ziemlich schwer zu erklären. Hast Du Erfahrung mit Computern?“
„Nur ein bißchen. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Wenn man ein System benutzt, das Informationen liefern kann, will man bestimmte Dinge über etwas Bestimmtes wissen. Also: Wozu benutzt Du Deinen Computer?“
„Tja, wenn Du das so siehst…“ Manfred dehnte seine Worte, er spielte auf Zeit. Grizzy ließ sie ihm und hütete sich, auch nur einen Laut von sich zu geben. Auch alle anderen Bären waren mäuschenstill.
„Letztendlich benutze ich den Computer, um etwas über Menschen zu erfahren“, gab Manfred schließlich zu. Er klang widerwillig. Schließlich hatte er aus der menschlichen Wissenschaft streng logische Schlußfolgerungen gelernt, und der Gedanke, zu dem Grizzy ihn gerade gezwungen hatte, behagte ihm gar nicht. Deshalb formulierte er ihn lieber selbst.
„Gut. Da ich Computer und Programme hauptsächlich brauche, damit wir Bären mit den Menschen fertig werden, werde ich Computer und Programme nicht mehr brauchen, wenn es keine Menschen mehr gibt. Erstmal hast Du gewonnen.“
Bewunderndes Brummen wurde laut – die Bären waren von so viel Scharfsinn begeistert. Auch das Schwein quiekte anerkennend. Allein Kulle wiegte skeptisch seinen Kopf, und auch Tumu schloß sich dem allgemeinen Beifall nicht an. Sie hatte nämlich gar nicht zugehört, sondern nachgedacht.
„Sag mal, Grizzy“, fragte sie, als die Unruhe sich wieder gelegt hatte. Was machst Du eigentlich, um das Verschwinden der Menschheit von der Erde zu bewirken?“
Das war natürlich eine hochinteressante Frage, und alle warteten gespannt auf die Antwort.
„Ich brauche gar nicht viel zu tun, denn die Hauptsache besorgen die Menschen selber. Sie vermehren sich unkontrolliert, und alle haben den Wunsch, so zu leben, wie ihre Artgenossen in den sogenannten entwickelten Industrieländern es ihnen vormachen. Also bemühen sie sich, möglichst viele unersetzbare Rohstoffe zu verbrauchen, und sie bewerkstelligen diesen Raubbau mit gefährlichen und die Umwelt zerstörenden Technologien. Die Triebfeder dafür ist ein den Menschen eigener Charakterzug: Habgier. Dazu kommt ihr artspezifisches kurzfristiges Denken. So weit, so gut.
Aber manchmal geschieht etwas Merkwürdiges, das gar nicht so recht zum allgemein menschlichen Verhalten passen will. Es ist sozusagen die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Manchmal tauchen Menschen auf, die darauf hinarbeiten, den Zerstörungsprozeß aufzuhalten oder gar umzukehren. Sie setzen sich zum Beispiel dafür ein, regenerative Energiequellen wie die Solarenergie anstatt von Kernkraft zu benutzen. Oder sie sind für Geburtenkontrolle. In solchen Fällen komme ich ins Spiel. Ich sorge dafür, daß diese Vernünftigen keine Chance haben. Zum Glück habe ich immer einflußreiche Verbündete, die über Geld oder ideologischen Einfluß verfügen. Am besten über beides, wie die katholische Kirche. Sie finanzieren mich auch, falls Ihr wissen wollt, woher ich mein Geld habe. Nach außen hin sieht es so aus, als ließe ich mich bestechen. Aber das stimmt natürlich nicht – man gibt mir nur Geld für das, was ich ohnehin will. Damit finanziere ich meinen aufwendigen Lebensstil, der mir allerdings keinen Spaß macht, wie Ihr heute mitbekommen haben dürftet. Aber für die Menschen, die die wichtigen Entscheidungen fällen, zählt jemand, der in einer Höhle wohnt, nichts.“
Und für Dich anscheind auch nicht‘, sagte Tumu, aber sie sagte es nur in ihrem Kopf. Bärdel jedoch, der neben ihr saß, spürte, daß sie kochte. Beruhigend griff er nach ihrer Pranke, aber sie entzog ihm die Pfote, stand auf und begann, in der geräumigen Höhle umherzuwandern. Nur mit Bewegung ließ sich ihre Erregtheit meistern. Die Bären betrachteten ihr ungewöhnliches Verhalten ruhig und aufmerksam. Schließlich blieb Tumu vor Grizzy stehen. Ihre Augen waren jetzt mit seinen auf gleicher Höhe, und das beruhigte sie. So flößte er ihr durch seine beeindruckende Statur keine Angst ein.
„Gut, Du arbeitest also darauf hin, daß dieser Planet unbewohnbar wird. Dann sterben die Menschen, das ist logisch. Was aber ist mit uns?“
„Ihr sterbt dann auch. Wir sterben dann auch.“ Die Antwort war emotionslos.
Grizzy hatte sich ein Stöckchen genommen und angefangen, auf dem Höhlenboden Bilder zu zeichnen. Den meisten Anwesenden sagten die Figuren nichts, aber Tumus beste Freundin, die sich in ihrer Freizeit mit Indianermythologie beschäftigte, erkannte die Muster. Einige Hopi, die nicht an die Allmacht der Geister auf den San Francisco Peaks glaubten, verwendeten diese Symbole. Sie stellten den Übergang von der vierten – der jetzigen – in die fünfte Welt dar.
„Aber die Ratten oder die Termiten oder die Kakerlaken oder wer auch immer, sie werden überleben. Die Evolution bekommt eine neue Chance. Eine notwendige neue Chance.“
„Hast Du Kinder?“
Jetzt war Tumus Stimme nicht mehr ruhig.
„Nein, natürlich nicht.“
„Natürlich nicht?“
Tumu konnte nicht verhindern, daß ihre Frage hysterisch klang. Was bildete sich dieser blasierte Bär ein!
„Was ist daran natürlich, keine Kinder zu bekommen? Ohne Kinder hätte Deine hochgelobte Evolution, seit sie die geschlechtliche Fortpflanzung erfunden hat, einpacken können! Hier – das ist Manfred!“
Tumu griff sich ihren sichtlich widerstrebenden Sohn, schleppte ihn in die Mitte der Höhle und stupste ihn direkt vor Grizzy unsanft auf den Boden.
„Mein Sohn! In ein paar Monaten wird er sich seine erste Freundin anlachen, vielleicht wird es etwas Festes, aber auch, wenn das nicht der Fall ist, mit irgendeiner Frau wird er Kinder zeugen. Und Du verurteilst diese Kinder schon heute zum Tode!“
Manfred war zwar sauer, weil seine Mutter ihn so vorführte, aber er hatte der Diskussion genau zugehört. Er hatte die ganze Zeit genau zugehört. Er hatte verstanden: Dieser fremde Bär wollte ihm nicht nur seine Computer wegnehmen, sondern auch seine Kinder umbringen!
Er zog die Lefzen zurück und bleckte die Zähne. Er war nicht allein. Emotional identifizierten sich alle Anwesenden mit Tumus Angriff. Sie begannen, ihre Ruhepositionen zu verlassen, und erhoben sich. Ein drohender Kreis schloß sich um Grizzy, der ruhig weitermalte. Aber Bärdel beherrschte sich, wenn es ihn auch viel Mühe kostete.
„Bären!“ mahnte er.“Bären! Wir haben einen Gast unter uns, der, das gebe ich zu, unbequeme Ansichten vertritt. Das berechtigt uns jedoch nicht, das Gastrecht zu verletzen. Wir sollten uns lieber auf unsere guten Traditionen besinnen: Wenn es unterschiedliche Ansichten sind, dann wird darüber geredet, bis die Kontroverse beseitigt ist. Das Faustrecht ist Jungbären unter sich vorbehalten!“
Manfred verstand den Rüffel und setzte sich wieder hin, und auch alle anderen Bären folgten seinem Beispiel. Das Schwein aber blieb stehen.
„Grizzy!“ sagte es. Seine Stimme klang ungewöhnlich tief, und daraus schlossen alle anderen zu recht, daß es sehr aufgeregt sein mußte.
„Grizzy! Du findest es also in Ordnung, daß die Menschen mich und meinesgleichen züchten, um uns aufzufressen? Denn wenn sie das tun und Massentierhaltung betreiben, pruduzieren sie jede Menge chemischer Stoffe, die letztlich ihnen selbst schaden, und sie sorgen für einen horrenden Gülleanfall, der die Landschaft verpestet und die Lebensqualität der Menschen mindert. Richtig?“
„Richtig!“ bestätigte Grizzy ungerührt. Noch immer ließ er sich in seiner Malerei nicht stören.
Jetzt hatte Bärdel es wirklich schwer, die Versammlung unter Kontrolle zu halten. Viele Bären hatten das Schwein liebgewonnen und waren angesichts der Vorstellung, daß es aufgefressen werden könnte, mit Abscheu erfüllt. Zornig rückten sie wieder gegen Grizzy vor.
„Kulle!“ rief Bärdel. Er wußte zwar auch nicht recht, was Kulle jetzt helfen konnte, aber er hatte das Gefühl, daß nur er die Situation retten konnte. Außerdem fiel ihm nichts Besseres ein.
Immerhin lenkte sein Ruf einige Bären ab. Sie schauten sich suchend um, konnten Kulle aber nicht entdecken. Da die Suche vergeblich blieb, war die Unterbrechung nur kurz. Wieder richtete sich alles Augenmerk auf Grizzy. Der Kreis um ihn zog sich enger.
„Kulle!“ rief Bärdel noch einmal. Seine Stimme zeigte Hoffnungslosigkeit. Er machte sich bereit, sich auf die angriffslustigen Bären zu stürzen. Einer mußte das Gastrecht in Ehren halten, und wenn es ihn sein Leben kostete.
In der Höhle, in der nur das hastige Atmen der Bären zu hören war, vernahm man plötzlich das Geräusch von rollenden Rädern, das sich näherte. Vor der Höhle stoppte es. Ein keuchender Kulle betrat den Raum.
„Entschuldigung!“ japste er.“Ich war mir nicht sicher, ob ich die Diskussion, die mir jetzt ja wohl bevorsteht, ganz allein bewältigen kann. Deshalb habe ich meine Bibliothek mitgebracht, zumindest einen Teil davon. Moment, ich bin gleich wieder da!“
Schon war er wieder draußen, aber wenige Augenblicke später kam er zurück und zog mit großer Anstrengung einen vierrädrigen Karren hinter sich her, der schwer beladen zu sein schien. Die Last war mit einer Plane bedeckt.
Kulle ließ den Kastenwagen achtlos stehen und näherte sich Grizzy.
„Das“, sagte er, wobei er auf den Karren wies,“ist nur für den Notfall. Ich hoffe doch, wir können uns jetzt von Bär zu Bär streiten.“
„Gerne“, erwiderte Grizzy höflich.“Allerdings, um ehrlich zu sein, ich möchte mich gar nicht streiten!“
„Das habe ich begriffen. Du hast uns ja schon abgeschrieben, wir sind fast tot. Und das sind wir deshalb, weil die Menschen sind, wie sie sind. Zumindest glaubst Du das. Die zufolge haben die Menschen einen unveränderlichen Charakter.“
Kulle legte eine Kunstpause ein. Grizzy nutzte die Chance, um zu nicken.
„Aber das ist Unsinn! Die Menschen sind gesellschaftliche Wesen, wie wir Bären auch. Anders als wir Bären haben sie während ihrer kurzen Existenz auf diesem Planeten die Art und Weise ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens wiederholt modifiziert. Das hängt damit zusammen, daß sie auch ihre Art der Auseinandersetzung mit der Natur geändert haben, nicht kontinuierlich, sondern in Schüben. Sie wurden von Gejagten zu Koexistierenden und schließlich zu Jägern. Sie entwickelten das, was sie selbst als Zivilisation bezeichnen. Da das gesellschaftliche Gesamtprodukt aber nicht ausreichte, um allen Individuen das auf der jeweiligen Entwicklungsstufe mögliche Höchstmaß an Konsum zu verschaffen, entwickelte sich gleichzeitig eine Klassengesellschaft mit den ihr inhärenten Mechanismen, unter anderem Egoismus und Habgier. Habgier also“ – und jetzt hob Kulle sich auf die Zehenspitzen -„Habgier ist kein allgemein menschlicher Wesenzug, sondern das Ergebnis von Produktionsverhältnissen, die die Menschen geschaffen haben, ohne ihre Mechanismen und Auswirkungen zu verstehen.“
Kulle blickte stolz in die Runde. Er war überzeugt, Grizzy mit dieser Argumentation besiegt zu haben. Der aber zeigte sich unbeeindruckt.
„Schön“, sagte er und malte eine schwungvolle Linie auf den Boden.“Karl Marx. Deine Rede zeigt, daß Du ihn verstanden hast. Das kann kaum jemand sonst von sich behaupten. Aber dieser Marx war schließlich auch nur ein Mensch!“
„Na und?“ rief Kulle empört.“Keine Argumentation wird dadurch entwertet, daß sie aus sogenannter falscher Quelle stammt! Allein die Qualität zählt!“
„Schon wieder Marx!“ brummte Grizzy anerkennend.“Wobei er selbst sich übrigens nie an diese lobenswerte Maxime gehalten hat. Kennst Du den alten Knaben etwa auswendig?“
„Nein, das tue ich nicht!“
Kulle ging zurück zu dem Karren, den er mitgebracht hatte, und zog die Plane von der Ladung. Buchrücken wurden sichtbar.
„Leider ist das hauptsächlich die MEW und nur ein kleiner Teil der MEGA,“ entschuldigte er sich.“Ich kaufe jeden Band, sobald er erscheint, aber im wiedervereinigten Dehland verläuft die Edition äußerst schleppend.“
Kulle machte eine kurze Pause, und währenddessen faßte er einen kühnen Plan.
„Grizzy, ich möchte Dir einen Vorschlag machen“, sagte er.“Dieser Marx ist nur ein Mensch, wie Du sagst. Er war fehlbar, wie Menschen sind. Wir Bären übrigens auch. Seine Frau leidet bestimmt noch im Grab darunter, daß sie Seite an Seite mit Lehnchen Demuth modern muß, obwohl das ein Problem ist, das wir promisken Bären nicht nachvollziehen können. Entschuldigung, ich schweife ab. Ich möchte Dir ein Duell vorschlagen. Ein friedliches Duell. Unsere Waffe heißt Karl Marx. Du scheinst ihn ähnlich gut zu kennen wie ich, und Du darfst auch meine mitgebrachte Bibliothek benutzen. Das Ziel ist klar, oder?“
Grizzy hatte zunehmend gespannt zugehört und richtete sich jetzt auf.
„Selbstverständlich. Wenn ein Mensch genug Argumente hat, um Bären davon abzuhalten, die Welt zu vernichten, die die Menschen zugrunde richten, dann hast Du gewonnen.“
Kein Laut war in der Höhle zu vernehmen. Tumu, die unlängst Goethes Faust I gelesen hatte, lief es eiskalt den Rücken herunter. Das war kein Pakt, das war eine Wette, und die gesamte Welt stand dabei zur Disposition. Auch alle anderen fühlten die Anspannung und waren mucksmäuschenstill.
Bärdel schluckte. Am liebsten hätte er Einspruch erhoben, aber er schreckte davor zurück. Bisher hatte Kulle noch immer gewußt, was er tat.
„Kein Einspruch?“ fragte er dennoch hoffnungsvoll, aber niemand rührte sich. „Also dann! Habt Ihr Euch schon geeinigt, wer anfängt?“
Grizzy und Kulle schüttelten gleichzeitig den Kopf, aber Grizzy sagte: „Kulle darf anfangen.“
„Gut!“ Kulle ging zu seinem Karren, zog ein Buch hervor, das ziemlich weit rechts gelegen hatte, schlug es auf und sagte:“Ich zitiere aus der Heiligen Familie‘“.

„Das Privateigentum als Privateigentum, als Reichtum, ist gezwungen, sich selbst und damit seinen Gegensatz, das Proletariat, im Bestehen zu erhalten. Es ist die positive Seite des Gegensatzes, das in sich selbst befriedigte Privateigentum.
Das Proletariat ist umgekehrt als Proletariat gezwungen, sich selbst und damit seinen bedingenden Gegensatz, der es zum Proletariat macht, das Privateigentum, aufzuheben. Es ist die negative Seite des Gegensatzes, seine Unruhe in sich, das aufgelöste und sich auflösende Privateigentum.
Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichcn Existenz. Sie ist, um einen Ausdruck von Hegel zu gebrauchen, in der Verworfenheit die Empörung über diese Verworfenheit, eine Empörung, zu der sie notwendig durch den Widerspruch ihrer menschlichen Natur mit ihrer Lebenssituation, welche die offenherzige, entschiedene, umfassende Verneinung dieser Natur ist, getrieben wird.
Innerhalb des Gegensatzes ist der Privateigentümer also die konservative, der Proletarier die destruktive Partei. Von jenem geht die Aktion des Erhaltens des Gegensatzes, von diesem die Aktion seiner Vernichtung aus.“

Schon während Kulle las, begannen einige Bären ungeduldig mit den Füßen zu scharren. Auch ließ sich vereinzelt unwilliges Brummen hören. Viele konnten mit dem langen, ihnen unverständlichen Text nichts anfangen.
Aber Kulle bemerkte davon nichts. Befriedigt klappte er den Band zu, sah Grizzy triumphierend an und legte das Buch zurück in den Wagen. Grizzy streckte unbeeindruckt die Hand aus und sagte:
„Ach bitte, bring mir doch auf dem Rückweg MEW 3 mit!“Und dann legte Grizzy los:

Grizzy

„Diese“Entfremdung“…kann natürlich nur unter zwei praktischen Voraussetzungen aufgehoben werden. Damit sie eine“unerträgliche“ Macht werde, das heißt eine Macht, gegen die man revolutioniert, dazu gehört, daß sie die Masse der Menschheit als durchaus „Eigentumslos“ erzeugt hat und zugleich im Widerspruch zu einer vorhandnen Welt des Reichtums und der Bildung, was beides eine große Steigerung der Produktivkraft, einen hohen Grad ihrer Entwicklung voraussetzt – und andrerseits ist diese Entwicklung der Produktivkräfte…auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte…“

Grizzy klappte das Buch zu, ging die paar Schritte bis zu Kulles Karren und legte es an seinen Platz.
„Jetzt reicht es aber!“ grollten ein paar alte Bären im Chor, und etliche Jungbären, die nicht gewagt hatte, eigenständig Widerstand gegen das ihnen unverständliche Kauderwelsch zu leisten, schlossen sich ihnen begeistert an.
„Wir wollen Märchen hören, nicht so ein komisches abstraktes Zeug!“
„Ruhe!“ forderte Bärdel.“Bären, Ihr alle seid mit dem Zitatenduell einverstanden gewesen, jedenfalls hat keiner Kulles Vorschlag widersprochen. Jetzt müssen wir auch geduldig abwarten, bis die beiden fertig sind.“
Das sahen die Bären ein, wenn auch viele nur widerwillig. Es wurde wieder ruhig in der Höhle, und aller Augen wandten sich Kulle zu. Er war dran.
Aber Kulle winkte nur resigniert ab.
„Laßt nur“, sagte er leise, ohne sich von der Stelle zu rühren.“Es ist vorbei. Grizzy hat gewonnen.“
„Ach ja?“ Es war das erste Mal, daß die alte Bärin sich in eine Höhlendiskussion einmischte, und deshalb wandten sich ihr alle Köpfe zu. Normalerweise pflegte sie zuzuhören und höchstens einmal zustimmend oder ablehnend zu brummen. Tagsüber tat sie ohne viele Worte ihre Arbeit. Es war die Alte, die am Morgen den Dorfplatz gefegt hatte.
„Ach ja?“ wiederholte sie, und ihre Stimme triefte vor Hohn. „Mir reicht es jetzt! Erst arbeiten wir alle tagelang für diesen … diesen Möchtegernbären, völlig umsonst, aber anstatt uns dafür zu entschädigen, mit einer schönen Geschichte zum Beispiel, verdirbt er uns den Abend mit unverdaulichem Zeug. Und Du“ – anklagend zeigte sie auf Kulle -„machst dabei auch noch mit! Jetzt hast Du verloren – das hast Du nun davon! Was Du verloren hast und warum, das hat außer Dir wahrscheinlich keiner begriffen. Ich jedenfalls nicht, und ich will es auch gar nicht mehr wissen. Ich habe Kopfschmerzen, und ich gehe jetzt ins Bett. Wer kommt mit?“
Sie wartete keine Reaktion ab, sondern trabte davon. Die meisten Bären folgten ihr, ebenfalls grußlos. Die Höhle leerte sich. Von vornherein war klar, wer zurückblieb: Bärdel, Tumu, Manfred und Kulle. Und selbstverständlich Grizzy.
„Hm“, machte Bärdel und bemühte sich trotz seiner Aufgewühltheit um Beherrschung. „Bitte entschuldige, Grizzy – normalerweise versuchen wir hier, höflicher miteinander umzugehen. Aber Du mußt zugestehen, daß Du uns heute ziemlich viel zugemutet hast!“
Grizzy zuckte die Schultern.
„Ihr habt mich eingeladen“, sagte er schlicht.
„Genau genommen habe ich Dich eingeladen“, murmelte Kulle. Das stimmte zwar nicht ganz, aber niemand widersprach.
„Jetzt bloß keine wechselseitigen Schuldzuweisungen!“ bestimmte Tumu resolut. „Die bringen uns nicht weiter. Ich bin vielmehr an Aufklärung interessiert. In einem Punkt stimme ich nämlich mit meiner alten brummigen Freunddin überein: Verstanden habe ich Eure Zitate auch nicht.“
Kulle und Grizzy öffneten gleichzeitig den Mund, um zu antworten, aber Manfred kam ihnen zuvor.
„Wenn ich darf, will ich‘s gerne versuchen. Das war zwar alles ziemlich oldfashioned, aber ich glaube, ich hab‘s gerafft.“
Tumu war so verblüfft über diese Aussage, daß sie gar nicht daran dachte, ihren Sohn wegen seines Jargons zu rügen. Auch Bärdel schaute erstaunt, und Kulle und Grizzy klappten ihren Mund wieder zu. So konnte Manfred ungehindert weitersprechen.
„Also, Kulle wollte sagen, daß der ganze Mist mit den Menschen nur daher kommt, daß es Herrschende und Beherrschte gibt. Die Beherrschten sind viel zahlreicher als die Herrschenden, und sie sind mit ihrer Lage unzufrieden. Deshalb werden sie einen Aufstand machen, und danach ist Friede, Freude, Eierkuchen. Grizzy hat gekontert und argumentiert, daß die Menschen nur Frieden halten können, wenn jeder genug zu beißen hat. Sonst stellt sich die ganze alte Scheiße wieder her. Hat mir gut gefallen, der Spruch – den muß ich mir merken. Das war schon die ganze Zitiererei. Aber wenn man das jetzt zusammennimmt mit dem aktuellen Zustand der Welt – sechs Milliarden Menschen, begrenzte Ressourcen, zerstörerische Technologien und der ganze Mist – , dann sieht man, daß nicht alle genug zu beißen haben können. Also hat Kulle verloren.“
Manfred, Tumu und Bärdel schauten Grizzy und Kulle an – Tumu und Bärdel fragend, Manfred Bestätigung suchend.
Ein doppeltes Nicken war die Antwort.
„Gur“, sagte Bärdel schließlich. „Wenn ich das richtig begiffen habe, seid Ihr Euch einig, daß der berühmte point of no return für diese Welt überschritten worden ist. Anders formuliert: Es gibt kein Mittel, um die Erde zu retten. Richtig?“
Grizzy und Kulle nickten, und Manfred schloß sich an.
„Mag sein, daß Ihr recht habt, obwohl mir der Gedanke gar nicht paßt. Wie sagen die Menschen doch? Credo, qia absurdum. Ich glaube zwar nicht, aber ich habe Hoffnung, obwohl und weil es absurd ist. Ohne Hoffnung kann ich nicht leben – und Tumu ebensowenig. Ohne Hoffnung zieht man keine Kinder groß. Entschuldigt, ich schweife ab. Grizzy, wenn Du meinst,daß die Erde, so wie wir sie kennen, von den Menschen ruiniert wird, dann gibt es doch eigentlich keinen Grund dafür, diesen Prozeß zu beschleunigen, oder?“
„Doch, den gibt es. Ich versuche, Schadensbegrenzung zu betreiben. Wenn die Menschen verschwinden, bevor sie auch den letzten Brocken Kohle verfeuert haben, werden die, die nach uns kommen, bessere Chancen haben.“
Zweifelnd wiegte Bärdel den Kopf hin und her.
„Wenn es keine Kohle mehr gibt, kommt bestimmt auch niemand auf die Idee, sie als Energieträger zu nutzen – mit all den Folgen, die wir kennen. Und übrigens: Ist es etwa Schadensbegrenzung, wenn Du der dehländischen Atomindustrie zuarbeitetst und dafür sorgst, daß die Protagonisten des nächsten Evolutionsschubs mit Hunderten von Tonnen Plutonium zurechtkommen müssen? Von dem anderen strahlenden Zeug will ich gar nicht erst reden!“
Grizzy schwieg und sah Bärdel lange an. Dann senkte er den Blick zu Boden und begann ein neues Sandgemälde.
Tumu öffnete den Mund. Es war offensichtlich, daß sie ärgerlich war und gleich eine ihrer gefürchteten Schimpfkanonaden beginnen würde. Aber bevor sie dazu kam, legte Bärdel ihr seine große Pranke aus Gesicht.
„Schsch!“ flüsterte er beruhigend.“Kommt, gehen wir schlafen! Wir sollten Grizzy jetzt in Ruhe lassen.“
Draußen sahen sie einander im spärlichen Licht der Sterne an.
Kulle holte tief und erleichtert Luft.“Das scheint ja noch mal gutgegangen zu sein!“ sagte er.
„Meint Ihr, daß Grizzy jetzt bei uns bleibt?“ fragte Manfred.
„Wenn er möchte, ist er uns willkommen. Wir werden ihn allerdings gut verstecken müssen – auch der dümmste Mensch wird diesen Riesen nicht mit seinesgleichen verwechseln. Jedenfalls ist das meine Meinung“, antwortete Bärdel. „Tumu, was meinst Du?“
Kulle und Manfred hatten den Eindruck, daß Tumu gar nichts meinte, denn sie schwieg. Aber Bärdel spürte, wie sie mit aller Kraft seine Hand drückte. Zärtlich gab er den Druck zurück.


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