Alles Theater

Es kommt niemals vor, dass es Bären langweilig wird – zu viel ist zu tun, zu viel gibt es zu lernen. Aber es kann durchaus sein, dass den Bären die Menschenwelt, die sie umgibt, als so merkwürdig erscheint, dass sie ihr nicht mehr mit den Mitteln der wissenschaftlichen Analyse, sondern nur noch mit Satire begegnen zu können glauben. Dann fangen sie an, Theater zu spielen. Besonders engagiert bei solchen Aktivitäten sind Athabasca, Bärdel, Kulle, Ramses und Tumu.
Anfang Juli war es wieder einmal so weit. Es war Zeit für ein Sommertheater, befand die Fünferbande, spielten die Menschen ihnen doch die wichtigsten Rollen vor – sie brauchten sie nur zu imitieren. Kulle, belesen wie immer, wusste, dass es dafür den Begriff der Realsatire gab, aber selbst er konnte den Ursprung dieses Begriffs nicht benennen. Klar war nur, dass die ernst gemeinte Realität so satirisch geworden war, dass sie kaum übertrieben zu werden brauchte, um ihre Schwächen darzustellen.
Natürlich würden sie die dehländische Politik aufs Korn nehmen, da gab es gar keine Frage. Zu diskutieren war nur, welche Rollen unabdingbar waren und wer welche Rolle übernehmen sollte.
“Also“, sagte Bärdel und kraulte sich am Kopf, “ich finde, ich sollte den Müntefering geben. Ich bin doch auch sonst immer so integrativ und vertrauenswürdig…“ Er grinste unschuldig.
“Gute Idee!“ lobte Tumu. “Aber dass du mir jetzt bloß nicht anfängst, Zigarillos zu rauchen! Ich wäre übrigens gerne die Merkel!“
“Einspruch!“ sagte Bärdel energisch. “Dazu bist du nicht gemein genug!“
“Einspruch gegen den Einspruch!“ widersetzte sich Tumu. “Die ist zwar gemein, aber die tut nett. Und genau das werde ich prima hinkriegen, denke ich – nett, wie ich bin.“
Bärdel gab sich geschlagen.
“Und wer bin ich?“ beschwerte sich Athabasca. “Ich bin doch auch nett, oder?“ fragte sie mit kokettem Augenaufschlag.
“Du bist mehr als nett, aber wirklich nette Rollen gibt es in diesem Spielchen nicht. Was hältst du von der Roth? Die kann genauso gut mit den Wimpern klimpern wie du!“ schlug Kulle vor.
“Du wagst es, deren Basedow-Augen mit mir zu vergleichen? Aber – das ist nicht das eigentlich Schlimme. Die Frau hat doch nichts zu sagen!“
“Ich kann dir nur zustimmen. Das Problem ist aber, dass keine der wesentlichen Protagonistinnen in unserem Spiel etwas Wichtiges zu sagen hat – du wirst dich damit abfinden müssen!“
Athabasca fügte sich schmollend.
“Bekomme ich dann wenigstens meine Traumrolle?“ erkundigte sich Ramses bescheiden.
“Und die wäre?“ wollten alle wissen.
“Na, Fischer natürlich! Hauptsächlich bin ich grün, wie man sieht, aber mein gelber Bauch gibt mir auch einen Touch von Giudo, von Realo, von Markliberalismus, also sogenannter Modernität – Joschka, wie er leibt und lebt!“
Niemand widersprach, nur Kulle fragte, obwohl die Frage wegen der vorangegangenen Rollenverteilung deutlich rhetorische Züge hatte: “Und was bleibt mir?“
“Du wirst deine rote Fahne für eine Weile wegstellen müssen“, schmunzelte Bärdel. “Die bleibt die Heldenrolle – der Schröder.“
Kulle war geschmeichelt – er war und blieb eben eitel.
“Wollen wir das Stück proben?“ fragte er.
“Ich denke, das ist überflüssig. Wir alle wissen doch, was wir zu sagen haben. Anstatt überflüssige Zeit für Proben zu verschwenden, würde ich gerne noch ein wenig Kant lesen, und ihr wisst bestimmt auch Besseres zu tun. Ich denke, wir können die Bärenversammlung heute Abend mit unserem kleinen Kabinettstückchen überraschen!“ schlug Bärdel vor.
Niemand widersprach.
Am Abend kündigte Manfred zu Beginn der Vollversammlung einen kleinen Sketch an, ohne nähere Erläuterungen hinzuzufügen, und schon ging es los.


Zimmer des SPD-Fraktionsvorsitzenden. Übliche Möblierung. An der Wand Portraits von Kurt Schumacher und Willi Brandt.


Kulle-Gerhard: Franz, ich trete zurück!
Bärdel-Münte: (raucht) Gerd, das kannst du nicht tun. Die Genossinnen und Genossen…
Kulle-Gerhard: … sind mir scheißegal. Waren mir immer scheißegal. Einzig wichtig war nur Acker und ist Viktoria. Ich kann es nun nicht mehr.
Bärdel-Münte: Ich hätte gar nicht gedacht, dass einer mit deinem sozialen Hintergrund die Buddenbrooks gelesen hat. Christian Buddenbrook, der Versager der Familie, sagt ständig: Ich kann es nun nicht mehr.‘ Aber davon ab – du musst weitermachen!
Kulle-Gerhard: Und warum?
Bärdel-Münte: Weil du es versprochen hast. Mit Amtseid. Du bist nämlich gewählt. Das Wohl des deutschen Volkes mehren und so weiter. Und eine gute Politik machst du auch!
Kulle-Gerhard: Ach ja? Das sagst ausgerechnet du? Du bist mir doch in den Rücken meiner Agenda 2010 gefallen mit deinen Heuschrecken!
Bärdel-Münte: Das sind nicht meine Heuschrecken, sondern internationale. Außerdem wollte ich mit den Heuschrecken unsere katastrophalen Wahlergebnisse korrigieren, die du verschuldet hast!
Kulle-Gerhard: (kreischt) Ach ja? Eben hast du noch behauptet, ich mache gute Politik!
Bärdel-Münte: (bleibt ruhig, zündet sich den nächsten Zigarillo an) Machst du auch, denn wir leben in Zeiten der Globalisierung. Da braucht man eine Art von Reformen, zu denen wir Sozialdemokraten früher Restauration gesagt hätten. Leider aber ist das vielen Genossinnen und Genossen nicht bewusst. Und deshalb brauchte ich ein paar Heuschrecken – so einfach ist das.
Kulle-Gerhard: (schreit) Du konterkarierst mich! Du hast mich lächerlich gemacht! Was soll ich jetzt tun?
Bärdel-Münte: (zieht ruhig an seinem Zigarillo) Am besten zurücktreten.
Kulle-Gerhard: (kreischt) Eben hast du noch gesagt, das geht nicht!
Bärdel-Münte: (ruhig) Der Mensch verwickelt sich eben immer in Widersprüche.
Auftritt Claudia Roth und Joseph Fischer
Athabasca-Claudia: Guten Abend.
Ramses-Joschka: Guten Abend.
Kulle-Gerhard: Was wollt ihr denn hier?
Athabasca-Claudia und Ramses-Joschka: (im Chor) Wir sind zum Essen eingeladen. Von dir!
Bärdel-Münte: Nicht mehr.
Athabasca-Claudia und Ramses-Joschka: (im Chor) Wieso nicht?
Bärdel-Münte: Darum nicht. Wir sind euch keine Rechenschaft schuldig, schließlich sind wir der größere Koalitionspartner. (Pause) Vertraut ihr dem Gerd?
Athabasca-Claudia: Also, ich finde es aufrichtig und ehrlich, und es ist auch eine Notwendigkeit, und ich habe schon immer, weil es auch nicht anders geht, darauf vertraut, dass Menschen vertrauensvoll miteinander umgehen. Deshalb macht es mich zutiefst betroffen, wenn…
Ramses-Joschka: (unterbricht) Kannst du in deinem Leben einmal einen Satz zu Ende bringen? Einen vernünftigen Satz? (Pause) Nein, ich habe ihm nie vertraut, dem Gerd. Ich vertraue noch nicht einmal meinen wechselnden Frauen. In der Liebe sollte man vielleicht vertrauen, in der Politik niemals. Dem Gerd schon gar nicht. Der ist ein Machtmensch – und ich weiß, wie so einer denkt.
Bärdel-Münte: Ihr seid beide wegen mangelnden Vertrauens ausgeladen. Übrigens vertrauen wir in der Espehde einander auch nicht mehr. Es ist Zeit für eine Trennung von Tisch und Bett. Wir sollten einander das Misstrauen aussprechen.
Kulle-Gerhard: (steht erregt auf) He, Mann, was soll das, das war mein Part!
Bärdel-Münte: Gerd, setz sich! Du solltest nach außen hin immerhin noch so viel Anstand haben, mit dem Vorsitzenden der Espehde zusammen aufzutreten! Also – der Kanzler fordert euch zur Vertrauensfrage auf, nach Artikel 68 Grundgesetz!
Athabasca-Claudia: Schön! Wir werden ihm mit der notwendigen Kanzlermehrheit das Vertrauen aussprechen, und alles wird gut! Wie ich schon sagte, ich vertraue prinzipiell jedem….
Ramses-Joschka: Dumme Pute, halt endlich mal dein Maul! Seit Jahren kann ich dich schon nicht ertragen! (zu Kulle-Gerhard) Du willst die Vertrauensfrage stellen? Im Bundestag? Warum?
Kulle-Gerhard: Um zu verlieren! Und um dann die nächste Wahl zu gewinnen!
Ramses-Joschka: Warst du letztens beim Arzt? Hast du dich durchchecken lassen? Ist mental wirklich alles in Ordnung?
Kulle-Gerhard: Danke, ja! Was willst du denn? Noch 15 Monate weiterwursteln und zusehen, wie alle unsere Gesetzesvorhaben an der CDU-etc.- Mehrheit im Bundesrat scheitern?
Ramses-Joschka: Ja, genau das will ich! Weil vielleicht dann auch der blödeste Wahlberechtigte merkt, dass nicht unsere Gesetze falsch sind, sondern dass der Bundesrat falsch liegt!
Bärdel-Münte: Gerd, da könnte was dran sein.
Kulle-Gerhard: (schreit) Und wenn schon! Ich hab die Faxen dicke! Ich hab mich übernommen! Ich will nicht mehr! Ich halt das nicht mehr aus! Kapiert das denn keiner!
Athabasca-Claudia: Aber Gerd, du hast mein vollstes Vertrauen und das der grünen Fraktion!
Kulle-Gerhard: Ich will das aber nicht, verdammt noch mal!
Bärdel-Münte: Wir sollten hier differenzieren. Am 30. Juni stehen noch einige Entscheidungen an, bei denen der Kanzler euer uneingeschränktes Ja‘ für eine eigene Mehrheit benötigt. Da müsst ihr ihm zeigen, dass ihr ihm vertraut. Einen Tag später allerdings müsst ihr zeigen, dass ihr ihm vertraut, indem ihr so abstimmt, dass ihr ihm misstraut. Nach dem leicht abgewandelten Motto von Lenin: Vertrauen ist gut, Misstrauen ist besser‘.
alle gleichzeitig
Kulle-Gerhard: Der Franz spricht mir aus der Seele.
Athabasca-Claudia: Ich verstehe überhaupt nichts.
Ramses-Joschka: Der alte Fuchs.
Langes Schweigen
Auftritt Merkel
Tumu-Angie: Guten Abend.
Ramses-Joschka: (nach sehr langer Pause) Guten Abend.
Pause
Tumu-Angie: Ich komme ungelegen?
Bärdel-Münte: Ja, aber in gewisser Weise kommen Sie gelegen.
Tumu-Angie: Können Sie das erläutern?
Bärdel-Münte: Selbstverständlich. (Pause)
Tumu-Angie: (unbehaglich) Also?
Bärdel-Münte: Nun…
Tumu-Angie: (zunehmend unruhig) Was?
Bärdel-Münte: Es gilt, gewisse Dinge aufzuräumen.
Tumu-Angie: Das ist mir klar. Das ist mir schon lange klar. Welche Dinge?
Kulle-Gerhard: (explodiert) Das blöde Weib soll doch nicht so tun, als könnte es die Probleme besser lösen als ich. Es versteht sie ja noch nicht einmal. Frauen und Gedöns und Politik – das ich nicht lache! Und überhaupt, eine kinderlose Politikerin sollte gar nicht erst versuchen,…
Tumu-Angie: Herr Bundeskanzler, was Kinderlosigkeit angeht, so sollten gerade Sie ganz vorsichtig sein. Im Übrigen, denke ich, sollten wir sachlich bleiben. Sachlichkeit war schon immer eine Stärke der CDU. Sachlichkeit und Sachkompetenz. Wo die CDU regiert, da geht es den Menschen besser, wie ich immer sage.
Ramses-Joschka: Nun ja…
Kulle-Gerhard: (immer noch sehr aufgeregt) Sie sagen doch sowieso immer nur das Gleiche!
Tumu-Angie: (süffisant) Ws man von Ihnen nicht gerade sagen kann, Herr Bundeskanzler. Wenn mich nicht alles täuscht, wandeln Sie Ihre sprichwörtliche Forderung“ Ich will hier rein!“ gerade ab in: “Ich will hier raus!“
Kulle-Gerhard: (explodiert schon wieder) Woher wollen Sie das wissen?
Bärdel-Münte: (ruhig, raucht seinen dritten Zigarillo) Man muss kontinuierliche Politik eben den Gegebenheiten anpassen, Frau Merkel, das müssen Sie erst noch lernen.
Tumu-Angie: Falsch, Herr Müntefering, das habe ich längst gelernt. Als Physikerin an einem staatstragenden Institut des ehemaligen Unrechtsstaats DDR und jetzige CDU-Vorsitzende Deutschlands halte ich es seit der Wende stets mit dem großen Adenauer: “Was schert mich mein Geschwätz von gestern?!“
Ramses-Joschka: (kichert in sich hinein) CDU-Vorsitzende Deutschlands, das ist gut!
Athabasca-Claudia: Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, was das hier alles soll. Ich bin so unheimlich betroffen von … von …
Tumu-Angie: (unterbricht das Gestammel) Wir von der CDU/CSU werden die rot-grüne Bundesregierung ablösen, und das ist gut so. Dieses Land braucht Politik aus einem Guss. Darum geht es …“
Bärdel-Münte: Und – wie wollen Sie das machen?
Tumu-Angie: Wir werden die rot-grüne Bundesregierung ablösen. Und dann werden wir … werden wir …
Bärdel-Münte: (drückt seinen Zigarillo aus) Gerd, ich freue mich auf angenehme Oppositionszeiten! Trinken wir ein Glas guten Rotspon?
Kulle-Gerhard: Ich hasse die Farbe Rot! Außerdem muss ich nach Hause – ich habe Viktoria versprochen, mit ihr zu spielen.
Athabasca-Chaudia: Joschka, was sollen wir jetzt bloß tun?
Ramses-Joschka: Wir gehen essen. Ich lade dich zum Vegetarier ein – für den kommenden Wahlkampf muss ich abspecken. Frau Merkel, möchten Sie sich vielleicht anschließen? Man kann ja nie wissen…
Tumu-Angie: Vielleicht nach der Wahl, Herr Fischer, vielleicht nach der Wahl. Jetzt habe ich eine Verabredung mit Herrn Westerwelle zu einem Arbeitsessen, übrigens in einem Drei-Sterne-Restaurant – das entspricht im Moment wohl nicht gerade Ihren Bedürfnissen. Die Bänke der Opposition sind hart, und Abgeordnetendiäten sind deutlich niedriger als Ministerbezüge. Guten Abend allerseits. (geht ab)
Die Versammlung löst sich auf. Bärdel-Münte bleibt allein zurück und zündet sich den vierten Zigarillo an.
Bärdel-Münte: (murmelt) Es gibt doch deutsche Heuschrecken….

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