Kunst

Tumu, die sich mit Vorliebe mit Kunst beschäftigte, also mit Menschenkunst, denn die Bären übten die Kunst, Kunst zu produzieren, nicht, war schon seit geraumer Zeit der Meinung, dass es in Bärenleben ein diesbezügliches Defizit gab. Lange hatte sie überlegt, wie diesem Übel abzuhelfen sei. Schließlich hatte sie eine Idee. Am Ende einer der regelmäßigen abendlichen Versammlungen der Bärenlebener machte sie den Vorschlag, verschiedene Neigungsgruppen zu gründen: Einen Chor, einen Malzirkel, eine Literatenvereinigung. Gerne hätte sie mehr ins Leben gerufen, aber diese drei erschienen ihr zunächst zentral. Da sie alle Bären für talentiert hielt, lud sie alle ein mitzumachen. Die Frauen waren auch gleich begeistert, weil sie stets neugierig auf Neues waren, die Männer dagegen zeigten ihr ohne zu überlegen die Rückseiten ihrer Pranken – keine sehr höfliche Geste, denn es handelt sich dabei um die bärische Version des menschlichen Stinkefingers.
„Warum wollt ihr nicht dabeisein?“ fragte Tumu entrüstet.
„Wir machen nicht mit, weil das verlorenen Zeit wäre. Bären haben kein Potenzial für Kunstproduktion,“ antwortete Bärdel.
„Das werden wir ja sehen!“ erklärte Tumu siegessicher. „In ein paar Wochen werdet ihr die Ergebnisse unserer Arbeit bewundern dürfen und euch wegen eures Defätismus in Grund und Boden schämen!“
In der nächsten Zeit waren die Bärenfrauen noch bienenfleißiger als sonst. Sie sammelten und bereiteten Nahrung im Rekordtempo und nutzen die freie Zeit für kreative Tätigkeiten. Tumu selbst begriff sich als Koordinatorin und Beraterin und flitzte zwischen den drei Frauengruppen hin und her, um ihnen zu helfen und Tipps zu geben. Die Malgruppe mischte zunächst alle möglichen Farben aus Naturmaterialien zusammen und präparierte große Borkenstücke, die als „Leinwand“ dienen sollten. Die Choristinnen überlegten sich vielstimmige Melodien. Nur die Literatengruppe kam ohne Vorarbeiten aus: Hier konnte man gleich mit dem Dichten beginnen. Deshalb erschien Tumu diese Arbeitsgemeinschaft am Anfang auch am interessantesten, und sie hielt sich am häufigsten dort auf.
„Ich bin eine glückliche Bärin…“ hörte sie dort zum Beispiel. „Das finde ich schon ganz gut, der Rhythmus stimmt, glaube ich. Aber woher nehme ich den nächsten Vers? Ich dachte für den Anfang an einen Paarreim, das ist einfacher als alles  andere.“
„‚Allerdings fehlen mir die Ferien` – wie wär’s damit?“ schlug ihre beste Freundin vor.
Die Verfasserin des künftigen Meisterwerkes runzelte die Stirn: „Irgendwas stimmt da nicht!“
Tumu sprang ein: „Wie wär’s mit: ‘Trotzdem fehlen mir die Ferien‘?“
„Schon besser – aber längst noch nicht gut. Der Reim gefällt mir nicht, auf Ferien reimt sich Bärien, nicht Bärin. Und das Metrum…“ Sie begann laut zu skandieren.
„Ihr schafft das schon!“ machte Tumu sich und den anderen Mut. Weil sie auch nicht weiter wusste, flüchtete sie und besuchte die anderen Gruppen.
Was sie dort zu sehen und zu hören bekam, war keineswegs ermutigender. Der Chor übte ein Liedchen ein, das wie eine missgestimmte Version von „Alle meine Entchen“ klang. Tumu hielt sich die Ohren zu und suchte vorerst das Weite. Musik ist eben eine schwierige Kunst, tröstete sie sich, aber Übung macht den Meister!
Die Malerinnen bedeckten ihre Borkenstücke flächig mit jeweils einer Farbe: Wenn man es anders mache, sehe es unordentlich aus, erklärten sie.
„Ihr könntet wenigstens behaupten, dass ihr minimalistische Kunst produziert!“ schimpfte Tumu. „Das ließe sich mit ziemlich viel Chuzpe vielleicht verkaufen. Aber so….“
Sie raste los und raffte in der Bibliothek so viele Kunstbände zusammen, wie sie gerade noch tragen konnte.
„Hier!“ keuchte sie, als sie wieder zurück war, und zeigte einen Kunstdruck nach dem anderen. „Das ist Kunst! Seht euch nur an, wie Rembrandt mit den Farben spielt. Und Miró – ist das nicht ästhetisch?“
Aber die Malerinnen waren anderer Meinung: „Dieser Rembrandt ist viel zu pingelig mit den Einzelheiten. Außerdem malt er nur Menschen und tote Tiere. Und um bunte Rechtecke zu zeichnen, sind wir uns zu schade.“
Es dauerte noch einige Wochen, in denen sie ähnliche Erfahrungen machte, bis Tumu bereit war, ihre Niederlage zuzugeben. Bei dem Eingeständnis half ihr, dass niemand sie an ihr leichtfertig gegebenes Versprechen, die künstlerischen Ergebnisse in kurzer Zeit zu präsentieren, erinnerte. Endlich berichtete sie Bärdel ausführlich und schonungslos vom kläglichen Scheitern der Bärinnen.
„Du hast damals gesagt: ‘Bären haben kein Potenzial für Kunstproduktion‘, das weiß ich noch genau. Anscheinend hattest du recht. Aber – warum?“
„Zum Glück kommst du jetzt erst mit dieser Frage!“ seufzte Bärdel. „Ich denke seit deinem Vorstoß darüber nach, dennoch halte ich meine Erklärung nach wie vor für unzulänglich. Aber ich habe keine andere.“
„Versuch’s ganz einfach;“ sagte Tumu und kuschelte sich an ihn. Sie war glücklich, endlich keine schlechten Verse und misstönenden Lieder mehr hören zu müssen, sondern der beruhigenden Brummstimme ihres Mannes lauschen zu können.
„Ich habe mir überlegt, welche Wurzeln die Menschenkunst hat. Literatur, Malerei und Musik entstanden aus derselben Quelle: aus Zauber und Magie, die später zu Religion mutierten. Dahinter steckt als Hauptmotiv Angst, weil die Menschen die Welt, in der sie lebten, nicht verstehen. Muss ich das erklären?“
„Ich glaube nicht. Die ältesten Felsmalereien und Epen beweisen, dass du recht hast. Meistens spielen Götter eine Rolle. In Bezug auf die Musik bin ich nicht sicher.“
„Ich auch nicht, aber die ältesten Musikstücke oder besser Fragmente, die erhalten sind, haben einen ‘spirituellen‘ Inhalt, wie die Menschen sagen. Wenn meine Theorie stimmt, dann braucht man, um künstlerisch kreativ zu sein, als Erklärungsmuster für all das, was man sich nicht erklären kann, die Vorstellung von einer überirdischen Realität, der man sich nicht mit normalen, sondern besser mit ‘kunstvollen‘ Mitteln annähern sollte. Und eine solche Vorstellung ist uns Bären fremd.“
„Stimmt. Aber…“ wandte Tumu ein, „aber es gibt doch zahlreiche Menschenkünstler, die produktiv sind und in deren Schaffen Religion keine Rolle spielt. Wie erklärst du dir das?“
„Es handelt sich um ein historisch junges Phänomen, richtig?“
Tumu nickte.
„Ihr Glaube an Götter hat den Menschen nicht das Hauptgefühl nehmen können, das ihr Leben bestimmt: die Angst. Viele Literaten sagen selbst, dass sie sich etwas von der Seele geschrieben haben.“ Bärdel machte eine Pause und schmunzelte dann. „Ich muss zugeben, dass ich eure ‘künstlerische‘ Produktion ab und zu belauscht habe: ‘Ich bin eine glückliche Bärin…’“
„Erinnere mich bitte nicht daran!“ bat Tumu.
„Ich musste dich daran erinnern, um dir etwas anderes zu zeigen. Hör mal zu:
‘Nun ist der Lenz gekommen,
Nun blühen alle Wiesen,
Nun herrschen Glanz und Freude
Auf Erden weit und breit;
Nur meine böse Herrin,
Sie keift und zetert immer
Noch wie in der betrübten
Und kalten Winterzeit!
Wenn ich am frühen Morgen
Mit aufgewachtem Herzen
Im Garten grab‘ und singe,
Die Welt mir freundlich blickt.
Wirft sie mir aus dem Fenster
Die ungefügen Worte,
Dass rasch in meiner Kehle
Das kleine Lied erstickt.‘
Die letzte Strophe lautet:
‘Mag selber sie nur beten,
Dass ihre eignen Kinder
Nicht einmal dienen müssen,
Wenn ihr das Glück entschwand
Und sie als arme Mutter
Wird um die Häuser schleichen,
Wo jene sind geschlagen
Von böser Herrenhand!‘
Das Gedicht lebt vom Dualismus von Harmonie und Bosheit und der Angst vor dem menschlichen Bösen, dem das lyrische Ich ausgeliefert ist. In ihrer Verzweiflung wünscht die Magd indirekt ihrer Herrin selbst Böses und macht deutlich, dass das Schicksal der Menschen von Gott abhängt. In Bärenleben kann man solche Gefühle einfach nicht verspüren.“
Nach einer nachdenklichen Pause fragte Tumu unvermittelt: „Kennst du Rodins Skulptur ‘Der Kuss‘?“
„Ich war noch nicht in Paris, aber ich kenne Abbildungen. Zwei wunderschöne nackte Menschen umschlingen einander in einer perfekten Umarmung. Die Darstellung gefällt mir sehr gut.“
„Meinst du, diese Plastik ist durch religiöse Vorstellungen oder Angst motiviert?“
Erst jetzt merkte Bärdel, dass er in der Falle saß. „Natürlich nicht!“ brummelte er. „Rodin zeigt wahre Liebe oder wahre Leidenschaft und sonst gar nichts…“
„Und die gibt es bei Bären nicht?“
„Bei Tussi, Tumu, du musst auch immer das letzte Wort haben! Natürlich gibt es die.“ Er langte mit allen seinen Extremitäten nach seiner Frau und knuffte sie herzlich nach Bärenart, dass ihr die Luft wegblieb. Zwischen zwei Küssen sagte er: „Und weil es bei den Bären Liebe und Leidenschaft gibt, gibt es ja vielleicht sogar einen aktiven Kunstsinn, aber das probierst du bitte erst in ein paar Jahren noch einmal aus, falls überhaupt, und jetzt lass uns erst mal Liebe machen, denn wer liebt, ist glücklich, und wer glücklich ist, produziert keine Kunst, sondern genießt sie…“
„Und wer hat jetzt das letzte Wort gehabt?“ schmunzelte Tumu.


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