Mathematik

Tante Atti
Nach den ersten Lernerfolgen der Zwillinge hielt Athabasca sie für wahre Genies und drängte Kulle, Na und Nuk auch in anderen Fächern als in Menschenkunde zu unterrichten. Kulle hatte nichts dagegen, zeigte als Ökonom, Soziologe und Philosoph allerdings auch kein sonderliches Interesse daran.
“Also“, sagte Atti, als die beiden kleinen Eisbärinnen sie am Beginn des nächsten Unterrichtsmorgens wissbegierig anschauten, “also, wir beginnen heute mit einem neuen Gegenstand. Er heißt Mathematik. Menschenkinder sagen auch gerne Mathe dazu. Mathe ist eine Wissenschaft, die sich mit Zahlen und Symbolen beschäftigt. Zahlen kennt ihr doch bestimmt, oder?“
Na und Nuk runzelten die Stirn, aber nur ein ganz kleines bisschen, so dass Atti die gefältelte Haut unter dem dichten Fell nicht sehen konnte. Für soo dumm konnte Tante Atti sie doch nicht halten!
Als höfliche kleine Eisbärinnen erklärten sie: “Natürlich, Tante Atti!“ Und sie begannen zu skandieren: “Eins, zwei, drei, vier…“ Bei “88“ unterbrach sie Atti mit dem Lob: “Das klappt ja schon ganz prima! Dann können wir auch gleich anfangen zu rechnen. Ich habe da eine Aufgabe vorbereitet…“
Attis Aufgabe lautete: Es gibt an einem bestimmten Ort 50 Bären und 50 Äpfel. Wie viele Äpfel bekommt jeder Bär, wenn gerecht geteilt wird?
Da Atti diese Aufgabe für leicht hielt, war sie von der Reaktion der Zwillinge überrascht. Die baten nämlich um ein paar Minuten Bearbeitungszeit.
“Wollt ihr dieses Problem etwa schriftlich bearbeiten?“ erkundigte sie sich.
“Nein, aber wir wollen darüber diskutieren, und vielleicht brauchen wir tatsächlich ein paar Notizen.“
Die Kinder sind für Mathematik wohl doch nicht geeignet, dachte Atti, als sie sich in der unerwarteten Pause in der Vormittagssonne räkelte. Aber Na und Nuk belehrten sie eines Besseren, als sie zurückkamen.
“Tante Atti, wir haben natürlich erkannt, dass du uns in eine Falle locken wolltest. Wenn alle Bären gleich viel wiegen und gleich viel Appetit auf Äpfel haben, und wenn alle Äpfel gleich groß und gleich saftig und ohne Würmer sind, oder wenn in jedem Apfel Würmer sind, die schon gleich große Teile der Äpfel ungenießbar gemacht haben, dann ist es natürlich gerecht geteilt, wenn jeder Bär einen Apfel bekommt. Aber wann ist das schon mal der Fall?“
Na Nuk
Das hätte Atti auch gerne gewusst, merkte sie jetzt. Der einzige, der in Bärenleben eine so komplexe mathematische Frage beantworten konnte, war aber Manfred, und der steckte wie üblich zwischen seinen Computerkabeln.
“Ihr habt das Problem hervorragend problematisiert“, formulierte sie unbeholfen und hoffte, damit ihre mangelnde Kompetenz zu überdecken. “Da ihr über eine wenig wahrscheinliche Möglichkeit nachgedacht habt, habt ihr vermutlich auch Lösungen für andere Varianten gefunden?“
“Aber klar, Tante Atti! Alle Bären haben gleich viel Appetit auf Äpfel, aber wiegen unterschiedlich viel – dann werden die Äpfel proportional zum Gewicht der Bären aufgeteilt! Alle Bären wollen alle Äpfel, die alle gut sind, aber verschieden schmecken, kosten: Jeder Bär kriegt dann von jedem Apfel ein möglichst identisches Stück. Wenn aber die Bären unterschiedlich viel wiegen und nicht alle den gleichen Hunger haben, wenn die Äpfel unterschiedlich groß, saftig und wurmstichig sind, und wenn es nicht erlaubt ist, die Äpfel zu zerteilen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass jeder Bär den für ihn richtigen Apfel bekommt, verschwindend gering. Wir haben überschlagen, dass die Chance etwa 1 zu 1031 beträgt. Genauer ging es leider nicht, wir konnten in der Eile keinen Taschenrechner finden. Deshalb sind wir auch davon ausgegangen, dass zehn Bären den gleichen Hunger haben und andere zehn das gleiche Gewicht, und zehn Äpfel sind gleich groß, und so weiter. Aber…“
Erschrocken verstummten Nanuk, als Athabasca sie sprachlos mit offenem Mund anstarrte. Schüchtern fragten sie schließlich: “Haben wir was falsch gemacht?“
“Nein, ihr habt nichts falsch gemacht.“ Mühsam sammelte sich Atti. “Ihr nicht, aber ich. Ihr braucht nämlich keinen Matheunterricht. Oder vielleicht doch, aber dann solltet ihr die Lehrerinnen sein und ich die Schülerin. Und jetzt geht spielen. Ich muss mich erst mal erholen.“
Fröhlich tollten Na und Nuk davon. Sie beschlossen, Manfred zu suchen und sich von ihm einen Taschenrechner auszuleihen, denn sie waren mit ihrem ungenauen Ergebnis unzufrieden. Atti dagegen blieb hocken wie angenagelt und murmelte wiederholt: “1 zu 1031“ vor sich hin. So fand sie Kulle, den doch die Neugier gepackt hatte und der wissen wollte, ob die Kinder mathematisch begabt seien. Ihm war nämlich eingefallen, dass Karl Marx sich intensiv mit Differentialrechnung befasst hatte, um sich von seiner persönlichen Qual abzulenken, als seine Frau im Sterben lag. Irgend etwas musste an dieser Wissenschaft also wichtig sein.
Athabasca riss sich zusammen und berichtete. Kulle konnte ebensowenig wie Atti nachvollziehen, was die Kinder da berechnet haben mochten, aber er analysierte sofort, dass sie das Problem der Verteilungsgerechtigkeit auf eine Weise betrachteten, die seiner Sicht der Dinge entsprach: Jedem nach seinen Bedürfnissen. Das, dachte er, ließe sich vielleicht für sein aktuelles Forschungsprojekt nutzen. Er machte ein bisschen Petting mit Atti, weil das erstens beiden Spaß machte und zweitens sie beruhigte, und danach begab er sich auf die Suche nach Nanuk. Er fand die beiden bei Manfred, der ihre Berechnungen bestätigte, und lud sie für den nächsten Tag zu einer weiteren Mathestunde ein.
“Morgen werde ich euch dann unterrichten!“
Na und Nuk vollführten voller Vorfreude einen doppelten eleganten Purzelbaum und besuchten danach ihre Mutter. Oicy planschte genüsslich im See und befragte natürlich, wie alle Mütter, ihre Kinder, wie es in der Schule gewesen sei. Sie war äußerst zufrieden mit den Fortschritten ihrer Töchter!
Kulle

Am nächsten Tag erschien Kulle mit mindestens ebensoviel Tatendrang zum Unterricht wie die Zwillinge.
“Ihr wisst ja, dass ich kein Mathematiker bin, sondern Gesellschaftswissenschaftler“, erklärte er am Anfang der Lektion. “Für Forscher wie mich kann die Mathematik nur eine Hilfswissenschaft sein, und deshalb habe ich mich damit nie intensiv beschäftigt. Um präzise zu sein: Ich habe mich gar nicht damit beschäftigt. Tante Atti hat mir gestern erzählt, dass ihr eine große Begabung darin gezeigt habt, Variablen zueinander in Beziehung zu setzen. Ich habe deshalb eine ganz einfache Aufgabe für euch! Beantwortet die Frage: Wann verhungert die Menschheit? Die dafür wichtigen Variablen sind…“
“Nein, Onkel Kulle, bitte nicht, Onkel Kulle! Das darfst du nicht verraten! Das wollen wir alleine rauskriegen! Haben wir bis morgen Zeit? Wir glauben nämlich, dass das eine sehr umfangreiche Aufgabe ist!“
Selbstverständlich gab Kulle den beiden die geforderte Zeit – er selbst biss sich an dem Problem seit Monaten die Zähne aus, was er Na und Nuk, eitel wie er war, natürlich nicht verriet.
“Schwester, wir teilen uns die Arbeit!“ befahl Nuk, nachdem Kulle, der überlegen lächelte und sich den Anschein gab, die Lösung des Problems selbstverständlich zu kennen, sie verlassen hatte. “Kein Widerspruch – ich bin die Erstgeborene! Es geht um die Menschheit und ihre Nahrungsgrundlage, und es geht, das hat Onkel Kulle gesagt, um Variablen. Wir müssen also erst mal gucken: Was nimmt zu, was nimmt ab? Was für unser Problem wichtig ist, brauchen wir wohl nicht zu erörtern. Willst du die Zunahme oder die Abnahme?“
“Ich nehme die Abnahme. Und du musst nicht immer deine Erstgeburt betonen – das nervt!“
Beide galoppierten los und vergruben sich in der Bibliothek von Bärenleben.
“Du fängst an mit der Zunahme!“ schlug Na vor, als sie sich ein paar Stunden später wieder trafen. “Zuerst das Positive!“
“Schön wär‘s ja“, seufzte Nuk. “Ist aber nicht so. Die Weltbevölkerung nimmt zu. In dieser Minute (18.9. 2007. 13.05 Uhr MESZ) leben ungefähr 6.647.000.000 Menschen auf dem Erdball. Pro Jahr werden es 81 Millionen mehr. In jeder Minute kommen 155 dazu! Die Menschen gehen davon aus, dass es 2050 ungefähr neun Milliarden von ihnen geben wird. Und die müssen essen!“
“Das wird aber schwierig, denn die verfügbare Ackerfläche pro Kopf der Erdbevölkerung nimmt ab. Gegenüber 1970 hat sich die gesamte für den Anbau von Getreide geeignete Fläche unwesentlich vergrößert – aber damals gab es drei Milliarden Menschen weniger. 1970 standen für jeden Menschen 0,18 ha Ackerfläche zur Verfügung, heute sind es weniger als 0,11 ha.“
“Das Problem könnte durch verbesserte Anbaumethoden behoben werden. Intensivlandwirtschaft…“
“… erhöht den Einsatz von Pestiziden und Insektiziden und damit die ökologische Belastung, was wiederum die Ertragsfähigkeit der Böden verringert…“
“…erhöht die Ernteerträge. Ebenso können genetisch manipulierte Pflanzen…“
“… die von Monsanto und anderen international agierenden Konzernen zum Zweck von deren Profitsteigerung, aber nicht zum Zweck der Erhöhung der Nahrungsmittelsicherheit entwickelt worden sind, die Erträge vielleicht steigern, weil sie schädlingsresistent sind. Es sieht allerdings so aus, als schädigten sie die Biodiversität, weil Insekten und Würmchen und Co – Biologie hatten wir noch nicht – sich bei ihnen nicht wohl fühlen und sich nicht vermehren. Außerdem müssen Bauern das entsprechende Saatgut jedes Jahr neu kaufen, und dazu sind nur Großbauern in der Lage. Schon deshalb verhungern Menschen.“
“Ich will ja gar nicht gewinnen“, stöhnte Nuk. “Du hast ganz sicher die besseren Argumente. Mach ruhig weiter!“
“Bleiben wir bei der Landwirtschaft. Natürlich werden die Menschen versuchen, aus dem Ackerland so viel wie möglich herauszuholen. Und sie werden versuchen, die landwirtschaftliche Nutzfläche zu vergrößern. Mehr rausholen kann man zum Beispiel durch Bewässerung. Schon heute verbraucht die Landwirtschaft etwa 70% des weltweiten Süßwasserbedarfs. Man braucht tausend Tonnen Wasser, um eine Tonne Weizen zu produzieren. Wasser wird knapper werden, als es jetzt schon ist, das hängt zusammen mit  der Bevölkerungszunahme und dem Klimawandel, der fast überall die Temperaturen steigen lässt. Ich habe dabei übrigens eine neue Vokabel gelernt: Desertifikation. Kennst du die?“
“Nee. Heißt das ‚Vernachtischung‘?“
“Quatsch, Wüstenbildung! Zurück zum Nahrungsproblem: Für die Vergrößerung der landwirtschaftlichen Nutzfläche bietet sich aus der Sicht der Menschen vor allem der tropische Regenwald an: Zuerst kann man wertvolle Hölzer vermarkten und danach Landwirtschaft betreiben. Regenwälder wurden zunächst für die Rinderhaltung abgeholzt, und seit wenigen Jahren kommt die Gewinnung von Biosprit dazu.
Rinder furzen…“
“Mami auch, Mami auch!“
“Sei nicht so albern, es geht um Rinder. Ihre Fürze enthalten Methan – dazu komme ich später. Rinder fressen irgendwo in Afrika oder Südamerika vielleicht Gras, aber die meisten fressen von Menschen angebautes Getreide. Weltweit werden etwas mehr als zwei Milliarden Tonnen Getreide geerntet, das entspricht gut 300 Kilogramm pro Menschenkopf. Das klingt ganz gut, ist aber insgesamt nicht mehr als 1970. Die Erntemenge wächst langsamer als die Weltbevölkerung.
Von dieser Ernte wird weltweit fast die Hälfte des Korns an Vieh verfüttert. In den Industrieländern liegt der Anteil sogar bei mehr als zwei Dritteln. Um Fleisch zu produzieren, braucht man mehr Energie als für die Herstellung pflanzlicher Nahrung, es gilt ungefähr Faktor 10. Also kann man sagen, dass bei der Produktion von Fleisch 90% der geernteten Nahrungskalorien verloren gehen.“
“Ob Mami das weiß?“ unterbrach Nuk nachdenklich. “Vielleicht würde sie dann Vegetarierin…“
“Das kann Mami gar nicht, und das weiß du genau. Überhaupt, lass Mami in Frieden! Und lenk nicht dauernd vom Thema ab! Also: Die Fleischproduktion der Menschen steigt weiter, weil der Luxuskonsum zunimmt, und gleichzeitig wird die Grundversorgung schlechter. Schon jetzt sind 800 Millionen Menschen unzureichend ernährt, obwohl statistisch ausreichend Nahrung erzeugt wird. Je mehr Fleischproduktion, desto weniger Regenwald, desto mehr CO2, desto ungerechte Lebensmittelverteilung. Fleischproduktion auf industrieller Basis bedingt notwendig Massentierhaltung und die wiederum Seuchengefahr, worauf die Menschen bisher nur eine Antwort kennen, die sie Keulung nennen. Es handelt sich dabei um Massenmord, und die Opfer werden irgendwie “entsorgt“, jedenfalls nicht gegessen.“
“Mir ist schlecht!“ stöhnte Nuk.
“Mir auch!“ sagte Na. Nach einer Pause fuhr sie fort: “Mit zunehmender landwirtschaftlicher Nutzung der Erde steigt nicht nur der Ausstoß von Methan, sondern auch von Kohlendioxid. Beides sind hoch wirksame Treibhausgase. Ich habe gelesen, dass der Anteil der weltweiten Landwirtschaft am Klimawandel etwa 18% beträgt und damit dem der USA entspricht.“
Na holte tief Luft.
“Bist du jetzt fertig?“ erkundigte sich Nuk.
“Gleich. Es fehlt nur noch eine Variable, nämlich Energie. Den größten Teil ihres riesigen Energiebedarfes befriedigen die Menschen mit fossilen Rohstoffen, und da selbst sie begriffen haben, dass die irgendwann erschöpft sein werden, wobei irgendwann ziemlich bald ist, suchen sie nach Alternativen. Da gibt es Wind- und Sonnenenergie, was vernünftig ist, und daraus lässt sich Elektrizität gewinnen, mit der man zum Beispiel heizen kann. Aber damit kann man kein Auto in Bewegung setzen, jedenfalls heute noch nicht. Das Auto ist aber wichtig für die Menschen, was ich nicht verstehe, aber es ist so. Sie könnten doch auch laufen, oder? Die Besitzer von Ölfördergesellschaften sind übrigens oft auch die von Autoproduktionsfirmen, sie haben also identische Interessen, warum hätten sie nach alternativen Antriebsweisen suchen sollen?
Aber allmählich wird Öl knapp und deshalb teuer, immer mehr Menschen wollen sich automobil bewegen, die Menschen suchen jetzt nach anderen Antriebsstoffen. Sie haben den Biosprit entdeckt. Also bauen sie zum Beispiel in Dehland Raps an, um ihn zu Diesel zu verarbeiten. Das wird sogar subventioniert, ist aber völliger Blödsinn, denn selbst wenn die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Dehland zum Rapsanbau genutzt würde, ergäbe das2 nur 5% des Diesels, der von Autos verbraucht wird. Auf einem Hektar kann man so viel Raps anbauen, dass man daraus 288 Liter Diesel gewinnen kann, damit kann man mit einem Auto, das 8 Liter auf 100 Kilometer verbraucht, 3600 Kilometer fahren. Man kann auf derselben Fläche aber auch zum Beispiel Weizen oder Kartoffeln anbauen.“
“Oops!“ sagte Nuk. ““Ich glaube, wir haben ein Problem.“
“Falsch, wir haben bestimmt ein Problem. Die Variablen, mit denen wir es zu tun haben, sind nicht fix, sondern werden sich gemäß ihrer Interdependenz verändern. Wir können Onkel Kulles Aufgabe nicht lösen. Was meinst du – wird er uns böse sein?“
“Das glaube ich nicht. Niemand kann das berechnen. Die Antwort ist nicht quantitativer, sondern qualitativer Natur. Wann die Menschen verhungern werden, ist ungewiss, dass sie verhungern werden, wenn sie weitermachen wie bisher, ist fraglos. Die Antwort wird Onkel Kulle gefallen. Ich habe ein ganz anderes Problem!“
“Welches?“
“Ich finde, wir reden so komisch, so – wissenschaftlich!“
“Das ist mir auch schon aufgefallen, aber das liegt an der Umgebung hier in Bärenleben.“
“Gehen wir jetzt spielen?“
“Klar!“

 


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