Krise

Es war ein warmer Spätfrühlingstag in Bärenleben, und es war Vormittag. Das Leben ging seinen üblichen Gang. Die Bären, das Schwein und der Frosch studierten, diskutierten, bereiteten das Essen vor, machten sauber oder betrieben Körperpflege.

Einbären

Oicy hatte sich für die Körperpflege entschieden, und das hieß für eine Eisbärin in dieser Jahreszeit hauptsächlich, der dehländischen Wärme auszuweichen, so gut es ging. Deshalb war sie in den eigens für sie und ihre Kinder erweiterten Dorfteich geglitten, hatte über und unter Wasser ihre Runden gedreht und davon geträumt, gleich gegen eine Eisscholle zu stoßen, auf der sich eine fette Sattelrobbe vergeblich zu verstecken versuchte. Aber natürlich blieb das ein Traum. Sie traf nur Ramses, der sich unter Teichrosenblättern zu verbergen versuchte und hoffte, eine Libelle zu erbeuten. Aber die klugen Libellen erspähten ihn immer rechtzeitig und bogen ab, bevor sie in seine Reichweite gerieten.

Ramses

Ramses verdrückte sich deshalb bald und hüpfte in Manfreds Hochtechnikwerkstatt. Er hatte dort einen Computerarbeitsplatz, an dem er an zwei komplexen Problemen arbeitete: Er wollte das Wetter präzise voraussagen – das war für einen Laubfrosch eine vergleichsweise leichte Aufgabe. Er wollte das Wetter aber auch beeinflussen können, und das war deutlich schwieriger. Wenigstens störte er niemanden, wenn er vor seinem Rechner hockte und versuchte, Tussis Schöpfung zu verstehen.

Mit Oicy war das anders. Als sie den Teich verließ, um zuerst nach ihren Kindern zu sehen und dann Tumu beim Kochen zu helfen, schüttelte sie sich kräftig, und es passierte das, was passiert, wenn Eisbären sich schütteln, nachdem sie gerade aus dem Wasser gestiegen sind: Aus dem dichten Pelz flogen Tropfen über Tropfen, und wer gerade in der Nähe stand, bekam eine kräftige Dusche ab.

Die Dusche erwischte die alte Bärin, die gerade vor ihrer Höhle aufräumte. Und nicht nur die Wasserdusche: Die Tropfen, die Oicy energisch auf die Reise geschickt hatte, platschten auf den trockenen Boden, lösten daraus Erdpartikel, ließen sie hochspringen und verwandelten die eben noch saubere Alte in eine über und über von Schmutz bedeckte Bärin.

“Ich krieg die Krise!” schimpfte die Alte zornig.

Oicy fühlte sich irgendwie angesprochen, wusste aber nicht recht, warum. Sie hatte sich doch ganz normal verhalten, oder? Aber helfen wollte sie schon.

“Kann ich Dir bei Deiner Krise helfen?” erkundigte sie sich freundlich.

“Bei meiner Krise? Bei MEINER Krise?” keifte die Alte. “DEINE Krise ist das! Weil bei Dir zu Hause das Eis schmilzt, bekleckerst Du mich hier in Dehland mit Wasser und Dreck, und wahrscheinlich bist Du auch für die Aschenkrise verantwortlich, die dieser Vulkan aus Island macht, aus dem Eisland also, da, wo Du herkommst.”

Oicy hatte ausgesprochen gut gefrühstückt, nämlich eine Kiste frischer grüner Heringe, in den Morgenstunden angeliefert vom Rungis-Express, und war deshalb friedlich gestimmt.

“Du hast recht, die Klimakrise ist meine Krise, aber ich bin dabei der passive und nicht der aktive Teil. Und mit dem Eyjafjallajöküll habe ich gar nichts zu tun.”

“Mit wem?”

“Mit dem Eyjafjallajökull. Das ist der isländische Vulkan, der vor kurzem ausgebrochen ist.”

Die alte Bärin überlegte, ob sie ausfällig werden sollte, weil Oicy sie jetzt auch noch mit unaussprechlichen Worten bombardierte, aber bevor sie damit zu Ende war, tauchten Bärdel und Kulle am Teichufer auf. Wie immer waren sie in ein intensives Gespräch vertieft.

Kulle und Bärdel

“Also, das mit der Krise musst Du mir bitte unbedingt erklären, und zwar ohne komplizierte Fachbegriffe!” sagte Bärdel energisch.

“Mir auch!” schloss sich die Alte nicht minder energisch an.

Kulle hatte ihr gar nicht zugehört, aber Bärdel war irritiert.

“Seit wann interessierst Du Dich für Ökonomie?” wollte er wissen.

“Für was?” Die Alte hatte allmählich die Nase voll von merkwürdigen Worten.

“Für Wirtschaft”, verbesserte sich Bärdel.

Empört stemmte die Alte die Arme in die Seiten. “Willst Du etwa behaupten, dass ich keine ordentliche Wirtschaft führe? Bei mir kann man vom Fußboden essen, normalerweise jedenfalls, wenn nicht gerade dieses ungeschickte weiße Monstrum…”

Auf Oicys Stirn zeigten sich die ersten Falten. Tiefe Falten. Sie war noch nie zornig geworden, seit sie in Bärenleben war, und das war auch gut so. Jetzt aber war sie kurz davor. Zum Glück wurde sie von Nanuk abgelenkt. Die Zwillinge stürzten auf sie zu.

“Mamimami, wir haben gerade etwas Neues gelernt! Onkel Manfred hat uns die Geschichte von Tschernobyl erklärt. Wir wissen jetzt, wann ein Reaktor kritisch wird!”

“Und wann ist das?” wollte ihre Mutter wissen.

“Wenn er zu heiß wird. Wenn man Pech hat, kommt es zu einer Kernschmelze. Dann wird die gesamte Umgebung vergiftet. Das ist dann eine fürchterliche ökologische Krise.”

“Ist eure ö-kol-ko-logische Krise dieselbe wie die von Bärdel?” fragte die Alte die Kleinen. “Bärdels Krise klang ähnlich, aber irgendwie anders.”

Na und Nuk waren von der Frage logischerweise überfordert, aber sie nutzten die Gelegenheit, um Bärdel mit Beschlag zu belegen.

“Onkel Bärdel, Onkel Bärdel, hast Du eine Krise?”

“Hm, ich weiß nicht so recht,” brummte Bärdel. “Allmählich schwirrt mir der Kopf. Vielleicht bekomme ich einen Migräneanfall. Ich glaube, ich bin an der kritischen Grenze dazu.”

Die Alte, die keineswegs immer nur putzte, obwohl sie dabei oft beobachtet wurde, lernte in ihrer freien Zeit gerade Griechisch und beschäftigte sich dabei natürlich auch mit Geographie und Landeskunde. Jetzt schüttelte sie den Kopf zum zweiten Mal und verstand überhaupt nichts mehr. Konnte ein Reaktor sich aussuchen, ob er auf Kreta stand oder anderswo? Wieso glaubte Bärdel, er sei an der Grenze Kretas? Und – hatte eine Insel überhaupt eine Grenze?

Kulle hörte immer noch nicht zu. Er pflegte das, was er als ,soziale akustische Umweltverschmutzung‘ bezeichnete, stets zu ignorieren. In solchen Phasen der gesellschaftlichen Abwesenheit beschäftigte er sich, wie er fand, produktiv mit der Lösung theoretischer Probleme oder wenigstens mit deren kommunikativer Vermittlung.

Kulle und Bärdel

“Diese Krise”, sagte er jetzt, “ist eine umfassende. Es ist falsch, wenn sie allein der Ökonomie angelastet wird. Ursächlich für sie ist die Politik, oder besser gesagt, das Versagen der Politik. Die politische Klasse Europas oder meinetwegen Kerneuropas sollte also selbstkritisch eingestehen, dass eine Währungsunion ohne eine gemeinsame Währungs- und Finanzpolitik, und eben ein solches Konstrukt stellt der Euro dar, auf tönernen Füßen steht. Was ist denn der Stabilitäts- und Wachstumspakt anderes als ein zahnloser Papiertiger? Die kritische Betrachtung dieser dilettantischen Konstruktion kann nur zu einem vernichtenden Urteil kommen.” Kulle holte tief Luft. “Derlei Dilettantismus lädt geradezu dazu ein, ihn auszunutzen. Wer will es den smarten Boys von den Hedgefonds, die sich im Januar oder Februar in einem New Yorker In-Restaurant getroffen haben, in dem es, Schande über die amerikanische Küche, vermutlich auch nichts anders zu essen gab als Steak oder totgebratenes Hähnchen, verübeln, dass sie auf die Idee kamen, mit vereinten Kräften gegen den Euro zu wetten? Der Erfolg spricht für sie!” “Kulle räusperte sich. “Die Krise, über die alle so entsetzt sind, ist übrigens keine Euro-Krise. Sie ist eine Schuldenkrise. Fast alle Staaten dieser Welt leben über ihre Verhältnisse, allen voran die USA. Ich bin gespannt, wann der Dollar brennt. Dann kann ich endlich meine rote Fahne aus ihrer Ecke holen. So!” sagte er triumphierend. “Noch Fragen?”

“Hast Du Kopfschmerztabletten?” Bärdel hielt sich schützend die Pranke vor sie Stirn.

“Hat das was mit mir zu tun, oder kann ich jetzt Tumu beim Kochen helfen?” wollte Oicy wissen.

“Onkel Kulle, was sind Hedgefonds?” Das waren die Zwillinge.

“Kulle, klopf mit mal den Pelz ab, damit ich wieder sauber werde. Und erkläre mir dabei: Was heißt eigentlich ,Krise‘?”

Kulle willfahrte ihr, bevor seine Situation allzu kritisch wurde.


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