Mali oder die Ironie der Geschichte

“Onkel Kulle?”

Kulle

Es war ein klarer Wintertag in Bärenleben, Kulle fror in seinem braunen Pelz, denn er studierte lieber, als sich der Winterruhe in der gemütlichen Höhle hinzugeben. Na und Nuk, die Eisbärenzwillingsschwestern, lebten dagegen bei solchen Temperaturen auf – ihretwegen hätte es ruhig noch deutlich kälter sein können.

Kulle

“Onkel Kulle, dürfen wir Dich was fragen?”

Natürlich durften sie. Kulle tat nichts lieber, als Fragen zu beantworten. Je schwieriger, desto besser.

“Onkel Kulle, wir haben im Internet und in der Zeitung gelesen, dass die französische Armee in Mali einmarschiert ist. Weil da islamistische Fundamentalisten oder so den Menschen verboten haben zu singen. Oder so. Und wir verstehen das alles nicht.”

“Wisst ihr, wo und was Mali ist?”

“Ja.”

“Wisst Ihr auch, was islamistische Fundamentalisten sind?”

“Nicht so richtig.”

“Hat Atti Euch genug über Rohstoffe und Ökonomie beigebracht, so dass Ihr Euch fit fühlt?”

“Tante Atti hat uns ordentlich getriezt.”

“Und wie alt seid Ihr jetzt?”

“Wir haben nicht gezählt, ehrlich gesagt. Fünf. mindestens.”

“Gut. Dann ist es jetzt Zeit, dass Ihr etwas über Mali lernt. Und dass Ihr lernt, gegen den Strich zu denken.”

“Das zweite verstehen wir nicht, Onkel Kulle. Tante Atti hat uns nur gesagt, dass wir nicht auf den Strich gehen sollen. Denken hat sie in diesem Zusammenhang nicht erwähnt.”

Gute alte Athabasca, dachte Kulle. Auf welchen Strich sollten junge Eisbärinnen in Dehland schon gehen?

“Ilam. Lami. Mila”, sagte Kulle.

“Hä?” machte Na.

“Hier zeigt sich wieder die intellektuelle Überlegenheit der Erstgeborenen!” freute sich Nuk und reckte ihre Nase in die Luft. “Das sind alles Anagramme für ,Mali‘.”

“Stimmt!” sagte Kulle. “Wer Anagramme knacken kann, der kann vorwärts und rückwärts denken, der fällt nicht auf eine falsche Reihenfolge rein und kann auch Lügen erkennen. Der kann gegen den Strich denken. Wer das kann, erkennt auch Ironie, denn Ironie arbeitet mit Falschaussagen. Ironie verkehrt Fakten in ihr Gegenteil. Das ist bestimmt neu für Euch, oder?”

“Es ist neu, Onkel Kulle.” Auch Nuk war jetzt recht kleinlaut. “Und – ist das nicht schrecklich schwer?”

Kulle schob die beiden Kinder in die Richtung der Schlafhöhle, machte selbst einen kurzen Umweg zur Küche, folgte dann und suchte ihnen allen dort ein gemütliches Eckchen. “Wird schon werden,” sagte er.

Nanuk waren begeistert über die Haselnüsse mit Fischgeschmack, die Kulle mitgebracht hatte, und erzählten beim Knabbern bereitwillig, was sie wussten.

“Und welche Regierung hat Mali?” erkundigte sich Kulle, nachdem ihnen die Puste ausgegangen war.

“Vor einem Jahr gab es einen Militärputsch. Mali ist eine Militärdiktatur.”

“Also ist die französische Armee in Mali einmarschiert, um eine Diktatur zu verteidigen?”

“Onkel Kulle, jetzt spinnst Du aber. Das kann doch nicht sein, dass…” Na hielt sich die Pfote vor den Mund, erschrocken über ihre Unhöflichkeit dem Älteren gegenüber. In Bärenleben gab man viel auf das Senioritätsprinzip.

Kulle zeigte keine Reaktion, er wartete einfach ab. Na schielte hilfesuchend zu Nuk. Aber ihre “große” Schwester ließ sie, wie so häufig, auflaufen.

Cool sagte sie: “Das kann vielleicht doch sein. Wenn die Fundamentalisten noch viel schlimmer sind als die Diktatoren.”

“Sie sind wahrscheinlich wirklich viel schlimmer”, kommentierte Kulle. “Sie haben nicht nur Musik, Tanzen und Rauchen verboten, sie verbieten allen Frauen alles, außer ihrem Mann zu gehorchen. Aber brutale Gewalt gibt es in vielen Weltgegenden, und die französische Armee lässt das genauso kalt wie die dehländische Regierung. Die hilft den Franzosen nämlich. Warum also gerade Mali?”

Na und Nuk zermalmten geräuschvoll die letzten beiden Haselnüsse. Kulle gönnte sie ihnen gerne – er bevorzugte andere Geschmacksrichtungen. Danach wurde es sehr still.

“Rohstoffe?” Kulle gab ein Stichwort.

“Na klar, Uran!” Das kam wie aus der Pistole geschossen von beiden. “Frankreich fördert Uran im Niger, das ist gleich nebenan. Frankreich lebt von Strom aus 58 Atomreaktoren, und Frankreich ist Nuklearmacht.” Nas genauere Erklärung sollte ihren Fauxpas vergessen machen.

“Gut!” lobte Kulle. “Das ist die Antwort auf die Frage nach dem ,Warum‘ des Einmarsches. Ein anderes ,Warum‘ gibt es aber auch noch: Warum sind die Fundamentalisten so gut bewaffnet, dass sie den hochgerüsteten Franzosen tatsächlich Mühe bereiten? Das steht zwar auch in den Zeitungen, aber nur in den besseren. Soll ich‘s Euch erklären?”

“Ja, bitte!” Anders als Menschenkinder konnte die Jugend in Bärenleben nie genug vom Lernen bekommen.

“Algerien liegt im Norden Malis, das wisst Ihr ja. Der Staat östlich von Algerien ist Libyen. Die Grenzen stehen in der menschenleeren Sahara weitgehend auf dem Papier. Man kann sich in dieser Wüste frei bewegen, wenn man dafür ausgerüstet ist.

Im Oktober 2011 wurde in Libyen der Diktator Muammar-el-Gaddafi gestürzt und getötet. Um seine Herrschaft zu festigen, hatte er ein riesiges Waffenarsenal angehäuft. Viele der Nomaden in seinem Land, die Tuareg, bezahlte er, damit sie für ihn kämpften. Als Gaddafi tot war, bekamen sie kein Geld mehr, aber sie wussten, wo die Waffen waren, und sie nahmen sie. Sie gingen dahin, wo man mit Kämpfen auch weiterhin überleben konnte. Zum Beispiel in Mali.

Es gibt in den nordafrikanischen Staaten auch noch andere gut organisierte Krieger, Krieger für den Islam, wie sie behaupten. Und es gibt Staaten im Nahen Osten, deren Regierungen wollen, dass der Islam siegt. Sie wollen einen Islam, der nur die eigene Religion gelten lässt und alles andere verfolgt. So ein Staat ist Saudi-Arabien. Saudi-Arabien unterstützt die Kämpfer für den Islam in Nordafrika mit Waffen.”

“Aber mit Saudi-Arabien ist Dehland doch befreundet!” Na konnte ihren Mund schon wieder nicht halten.

Diesmal nickte Kulle anerkennend. “Du hast gut aufgepasst! Dehland ist mit Saudi-Arabien so gut befreundet, dass es dem Land viele Waffen verkauft hat – Waffen im Wert von 30 Millionen Euro. Riad möchte noch viel mehr Produkte der dehländischen Rüstungsindustrie, vor allem Panzer.”

“Heißt das etwa…” Nuk unterbrach sich selbst. “Nein, das kann nicht sein!”

“Man soll auf dieser Welt nie etwas ausschließen, wenn es um Menschen geht”, kommentierte Kulle.

“Heißt das etwa, dass die französischen und vielleicht auch bald die dehländischen Soldaten gegen Islamisten kämpfen, die Waffen haben, die Dehland verkauft hat?”

“Genau das heißt es.”

“Das ist aber komisch!”

“Ja, komisch ist es schon, aber – könnt Ihr darüber lachen?”

“Natürlich nicht, Onkel Kulle!”

“Recht habt Ihr: natürlich nicht. Aber eine erste Annäherung an Ironie ist Euch gelungen: Das, was Dehland erwartet hat, nämlich dass die Saudis mit ihren dehländischen Waffen auf Sanddünen schießen oder Löcher bohren, um ihr Öl zu fördern, oder zumindest die bösen Iraner bekämpfen, ist nicht eingetreten. Stattdessen – aber das wisst Ihr ja jetzt. Das nennt man Ironie der Welt oder Ironie der Geschichte.”

“Das ist aber schwierig, Onkel Kulle!”

“Stimmt! Aber Ihr seid kluge Mädchen, Ihr seid erst fünf oder sechs Jahre – Menschenkinder verstehen Ironie erst, wenn sie doppelt so alt sind. – Und jetzt singen wir ein Lied, wenn Ihr mögt, sozusagen gegen die Islamisten, die das Singen verbieten wollen. Habt Ihr Lust?

“Au ja!”

“Schön, sagte Kulle, zückte sein Smartphone und spielte ihnen den Song vor.

He is five foot two,

And he’s six feet four,

He fights with missiles and with spears,

He’s all of thirty-one,

And he’s only seventeen,

He’s been a soldier for a thousand years.

 

He’s a Catholic, a Hindu,

An atheist, a Jain,

A Budhist, and a Baptist and a Jew,

And he knows, he shouldn’t kill,

And he knows, he always will,

Killing for me, my friend, and me for you.

 

And he’s fighting for Canada,

He’s fighting for France,

He’s fighting for the USA

And he’s fighting for the Russians,

He’s fighting for Japan,

And he thinks we’ll put an end to war this way.

 

And he’s fighting for democracy,

He’s fighting for the Reds,

He says it’s for the peace of all,

He’s the one who must decide,

Who’s to live and who’s to die,

And he never sees the writing on the wall.

 

But without him, how would Hitler

Have condemned him at Lw’ow,

Without him Cesar would have stood alone,

He’s the one, who gives his body

As a weapon of the war,

And without him all this killing can’t go on.

 

He’s the universal soldier,

And he really is to blame,

His orders come from far away, no more,

They come from here and there,

And you and me and brothers,

Can’t you see,

This is not the way we put the end to war.

 

“Das ist aber ein trauriges Lied, Onkel Kulle”, sagte Nanuk.

“Das ist es!” bestätigte Kulle.


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