P. D. Kulle
Der zweite Untergang der „Titanic“
“We’re going to have to come to grips with a long-term employment crisis and the fact that — strictly from an economic point of view, not a moral point of view — there are more and more ‘surplus humans.’” — Karl Fogel, partner at Open Tech Strategies, an open-source technology firm.
Vorwort
Das Passagierschiff „Titanic“; war bei der Indienststellung (1) am 2. April 1912 das größte Schiff der Welt und galt als unsinkbar. Auf ihrer Jungfernfahrt von Southampton nach New York kollidierte die „Titanic“ am 14. April 1912 etwa 300 Seemeilen südöstlich von Neufundland allerdings mit einem Eisberg und sank zwei Stunden und 40 Minuten später. 1514 der über 2200 Passagiere starben, was große Teile der Besatzung aus egoistischen Motiven nicht zu verhindern suchten und was das Bordorchester nicht verhindern konnte, obwohl es bis zur letztmöglichen Minute optimismusfördernde Melodien spielte, um das Ertrinken in den eisigen Fluten angenehmer zu gestalten.
Der US-Kinofilm „Titanic“ aus dem Jahr 1997 gewann elf Oscars und hatte allein in den USA 131 Millionen Zuschauer. Das zeigt, wie sehr die damalige Katastrophe die Menschen der Gegenwart anspricht (2). Überhaupt beweist der Erfolg zahlreicher Hollywood-Produktionen, dass Menschen von Katastrophen magisch angezogen werden – solange sie nicht selbst davon betroffen werden.
Die Erkenntnis ist nicht neu:
Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen. (3)
Was aber hat der Untergang der „Titanic“ vor 105 Jahren mit einer kurzen Untersuchung der sozioökonomischen Gegebenheiten heute zu tun?
Wir werden sehen.
Anamnese
Wir benennen im folgenden einige globale und regionale Fakten beziehungsweise Trends.
• Täglich erhöht sich die Zahl der menschlichen Bewohner des Planeten Erde um etwa 80 Millionen. Am höchsten ist die Fertilitätsrate in Afrika, dem Kontinent, in dem Armut und Nahrungsmittelknappheit am größten sind, während an Diktaturen und Kriegen kein Mangel herrscht.
• Erwerbsarbeit, seit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals mit wenigen Ausnahmen überall die Grundlage für die Gewährleistung eines Lebensunterhalts (4), ist ein rares Gut geworden. Vermutlich sind 2017 mehr als 200 Millionen Menschen arbeitslos (5).
• Die Menschen schaffen qualitativ und quantitativ immer bessere Bedingungen dafür, einander umzubringen. Der weltweite – offizielle – Handel mit Waffen hat ein geschätztes Volumen von jährlich zwischen 40 und 50 Milliarden US-Dollar (6). Eine wichtige Importregion ist der Nahe und Mittlere Osten. Der durchschnittliche Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist weltweit nirgends höher als hier.
• Kriege und Konflikte in Afrika haben zwischen 1990 und 2005 ebenso viel Geld vernichtet, wie an Entwicklungshilfe in den Kontinent geflossen ist – 284 Milliarden US-$.
• Hunger und/oder Kriege sind Fluchtursachen. Weltweit sind über 60 Millionen Menschen auf der Flucht.
• Der Siegeszug der Demokratie ist beendet. Ein in europäischen Staaten wieder salonfähiger Nationalismus, eine russische Führung, die immer selbstbewusster ihr autoritäres Gegenmodell zur westlich-liberalen Demokratie propagiert, der Nahe Osten und der Maghreb, die wieder in Richtung Konflikt und Diktatur kippen, die Türkei auf dem Weg in die Präsidialdiktatur, China im Würgegriff seiner korrupten, alles beherrschenden Partei, die sich nicht entblödet, sich immer noch als kommunistisch zu bezeichnen, und nicht zuletzt die USA, deren Präsident die Unabhängigkeit der Justiz in Zweifel zieht, sind deutliche Indizien.
• Multilaterale Bündnisse und Verträge sind gefährdet, dafür stehen exemplarisch der Brexit“ und auch die Aufkündigung des TTP-Vertrages durch US-Präsident Trump.
Diagnose
Die Symptome zeigen unzweifelhaft ein Krankheitsbild der Weltgesellschaft. Die genannten Probleme werden durch Überfluss generiert, nämlich durch einen Überfluss an Angst.
Platt formuliert: Putin hat Angst, dass Russland von der NATO bedroht wird, Kim Jong-Un meint, sich als Diktator nur halten zu können, wenn er international Drohpotential aufbauen kann, Assad fürchtet sich davor, nicht mehr Diktator Syriens, sondern vielleicht Angeklagter vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu sein, Erdogan fürchtet sich vielleicht wirklich vor Gülen… Die Liste ist verlängerbar.
Die Angst der Mächtigen ist beängstigend genug, vermögen doch etliche von ihnen, auf berüchtigte rote Knöpfe“ zu drücken, nachdem einer von ihnen eine rote Linie“ überschritten hat.
Vielleicht noch bedrohlicher ist die Angst der Machtlosen. Sie fürchten nicht um Pfründe. Sie fürchten um ihre Lebensgrundlage. Ihre Lebensgrundlage – das ist ihr Arbeitsplatz. Zumindest ein Arbeitsplatz.
Warum, so fragen sie sich, gibt es nicht genug Arbeitsplätze? Offizielle und offiziöse Antworten sind wohlfeil: Weil Ausländer die Arbeitsplätze gekapert haben (7). Weil zu viele Umweltschutzgesetze existieren. Weil subventionierte Importe die eigene nationale Wirtschaft schwächen (8). Bei derlei Erklärungen wird die Ursache wo auch immer behauptet, nur nicht bei den Unternehmen des eigenen Landes.
Vertreter der politischen und wirtschaftlichen Elite sprechen nur ungern darüber, dass die kapitalistisch organisierte Ökonomie des eigenen Landes zwangsläufig profitorientiert ist. Wenn man schon genötigt ist, Veränderungen im eigenen Land zu thematisieren, bedient man sich gern euphemistischer Formulierungen. Derzeit ist allerorts die Rede von „Industrie 4.0“. Das klingt gut, ist es doch eine Steigerung der „Industrie 3.0“, der Automatisierung durch Elektronik – was soll an Steigerungen negativ sein? Gemeint ist allerdings die Robotisierung des Arbeitsmarktes – das hört sich wesentlich schlechter an. Einer Studie der ING Diba zufolge sind 59% der Arbeitsplätze in Dehland in ihrer jetzigen Form davon bedroht. (9)
Weil diese Prognose so brisant ist, versuchen „Experten“ abzuwiegeln und beschwören für die nächsten Jahre einen drohenden Facharbeitermangel oder orakeln von einem Strukturwandel, der zwar zu höheren Anforderungen an die Arbeitskräfte, aber auch zu höheren Lohnsummen führe. (10)
Wer von den Menschen auch im Zeitalter sogenannter „sozialer Netzwerke“ noch bereit und in der Lage ist, über das hinauszuhorchen, was neuerdings als „Echokammer“ bezeichnet wird, der kommt nicht umhin, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Drohnen anstelle von Paketzustellern, Algorithmen als Autofahrer (11) oder Analysatoren juristischer Texte, elaborierte Schreibprogramme anstelle von Versicherungskaufleuten – die lebendige Arbeit war so effektiv, sich weitgehend durch tote zu ersetzen.
Vor diesen Armen und Arbeitslosen fürchten sich die Mächtigen und versuchen, sie zu beruhigen, indem sie Sündenböcke erfinden (12). Die Armen und Arbeitslosen in den Industriestaaten mit mehr oder weniger tragfähigen sozialen Netzen fürchten sich vor den noch Ärmeren aus Kriegs- und Krisengebieten, die aus ihrer Heimat zu flüchten versuchen.
Sie flüchten sich in die Arme starker „Männer“ (13). Die Ärmsten der Armen werden weiter, auch bei Gefahr ihres Lebens, ins gelobte Land zu gelangen versuchen.
Therapieversuch?
„Wir müssen dringend Maßnahmen zur Schaffung menschenwürdiger Arbeit ergreifen, ansonsten besteht die Gefahr erhöhter sozialer Spannungen und Unruhen“ so Guy Ryder von der ILO.
Woran denkt der Brite Ryder, wenn er so etwas sagt? An die Textilarbeiterinnen in Bangladesh und in Äthiopien? Oder an die Arbeitslosen in England?
Auf einem Planeten mit schon längst übernutzten Ressourcen und einer weiter exponentiell steigenden menschlichen Bevölkerung ist es nicht wahrscheinlich, dass Arbeit menschenwürdig gestaltet werden kann, zumal das bisher auch nicht gelungen ist, falls es überhaupt jemand in nennenswertem Umfang versucht hat.
Bleiben die entwickelten Länder, in denen Ressourcen zur Verfügung stehen, die zur Alimentierung der Bevölkerung genutzt werden können. Es stellt sich die Frage, ob in einer Welt, in der der immer größere Teil der Wertschöpfung von Maschinen geleistet wird, Einkommen teilweise von der klassischen Erwerbsarbeit getrennt werden sollte oder muss.
Es verblüfft, dass Gegner wie Befürworter des Konzepts eines bedingungslosen Grundeinkommens in allen politischen Lagern zu finden sind. Es ist bezeichnend, das viele Väter dieser Idee im Silicon Valley beheimatet sind – wer dort arbeitet, weiß, welche Revolution er befördert, und er ist sich wohl auch bewusst, welchen Sprengstoff sie in sich birgt.
Aber ist ein solches Grundeinkommen sinnvoll? Diese Frage impliziert auch die nach der Notwendigkeit. Wenn man (14) das Leben von Homo sapiens sapiens als notwendig betrachtet, auch dann, wenn er seine sozialökonomische Aufgabe der Weiterentwicklung der Produktionsmittel nicht mehr erfüllt, weil die Produktionsmittel diese Entwicklung selbst in die Metallhände genommen haben, dann lautet die Antwort „Ja“.
Was aber macht der Mensch mit seiner Freiheit, mit seiner Freisetzung, mit seinem überflüssigen Da-Sein? Pflanzt er einen Baum, zeugt er einen Sohn?(15) Verhilft die ausreichende Alimentierung dem Homo sapiens sapiens zum Reich der Freiheit, in dem er morgens Fischer und abends kritischer Kritiker sein kann, oder ist er tagfüllend Konsument des RTL-Fernsehprogramms beziehungsweise tummelt sich in der virtuellen Realität, in der er seine Perversionen ausleben kann?
Was auch immer der durch ein unabhängiges Grundeinkommen in den Industrieländern alimentierte Mensch tun wird, ob er gar nicht oder völlig in einer Echokammer gefangen sein wird, er wird sich Informationen von außen nicht völlig verschließen können. Er wird erfahren, dass die Flüchtlinge aus Afrika an seine europäische Tür klopfen. Er wird wissen müssen, dass Waffen eingesetzt werden, in seinem Haus oder „weit, in der Türkei“.
Er wird erleben, dass „seine“ Welt untergeht, „seine“ Titanic, und er wird die Lust an Katastrophen verlieren, falls seine mentalen Ressourcen noch ausreichen, um an Lust zu denken.
April 2017
Wenn Sie die Maus kurz über der Fußnote verharren lassen, wird der Text der Fußnote angezeigt – falls das nicht klappt, hier sind noch einmal alle Fußnoten:
- Ein fürchterliches dehländisches Menschenwort!
- Auch wenn die Untergangsstory durch eine süßliche Liebesgeschichte geschmeidig gemacht wurde.li>
- Goethe, Faust. Erster Teil. Vers 860ff. Inzwischen ist die Türkei, in der die Völker immer noch aufeinander schlagen, dem dehländischen Spießer recht nahe gerückt.
- oder zumindest die Chance darauf
- Schätzung der ILO, der internationalen Arbeitsorganisation
- Die Zahlen stammen aus dem Jahr 2012, sind also viel zu niedrig.
- Das behauptet in Dehland zum Beispiel die NPD.
- Das behauptet in den USA zum Beispiel Donald Trump.
- vgl. ING Diba economic research 30.4.2015
- vg. IAB-Forschungsbericht 13/2016. Die IAB ist eine Forschungseinrichtung der Bundesanstalt für Arbeit.
- Der Begriff des Autofahrers bekommt hier eine ähnlich-andere Bedeutung, sagt der Chef. Eine genauere Erklärung wollte er nicht geben. Die Sekretärin
- siehe oben
- und auch starker Frauen, z. B. Marine LePen. Und dazu Trump, Putin, Erdogan…
- Wer immer das auch ist.
- Luther fand beides nützlich, der Chef und auch ich halten das zweite für schädlich. Die Sekretärin