Kulle
„Onkel Kulle, Onkel Bärdel, kennt Ihr schon den neuesten Eisbärenwitz?“
Bärdel wie auch Kulle glaubten, alle Eisbärenwitze zu kennen, aber natürlich wollten sie die fröhlichen Eisbärenzwillinge nicht enttäuschen, schon gar nicht an einem wunderschönen Aprilmorgen wie diesem.
Also sagte Bärdel, und er legte viel gespannte Erwartung in seine Stimme: „Nein, bestimmt nicht. Erzählt doch mal!“
Na fing an: Es war einmal ein Eisbärenkind, das fragte seine Mutter: “Bist Du wirklich eine echte Eisbärin?“
Nuk fuhr fort: „Aber selbstverständlich. Und Dein Vater und Eure Großeltern sind auch echte Eisbären. Warum fragst Du überhaupt?“
Nanuk schauten Bärdel und Kulle erwartungsvoll an. „Gleich kommt die Pointe. Habt Ihr eine Ahnung?“
„Nein!“ Die beiden alten Bären logen, so gut sie konnten.
„Mir ist so kalt!“ sagten die Zwillinge unisono.
Bärdel und Kulle lachten pflichtschuldigst, aber nicht überzeugend genug.
„Ihr kanntet den Witz schon! Ihr seid gemein! Aber der Witz ist trotzdem gut, oder?“
„Der Witz ist trotzdem gut, ja. Denn er nimmt eine überraschende Wendung, was einen ordentlichen Witz auszeichnet, und er transportiert dazu noch eine Wahrheit statt eines Vorurteils, was die meisten schlechten Witze auszeichnet.“
„Eine Wahrheit, Onkel Bärdel? Welche denn?“
„Das Eisbärkind in dem Witz friert, und das gehört sich nicht für ein Tier, das ein Fell mit hervorragender Wärmedämmung besitzt. Es hat Angst, nicht dazu zu gehören.“
„Warum ist es wichtig, dazu zu gehören?“
Bärdel seufzte. Warum konnte er nicht einfach auf seinem Morgenspaziergang den Frühling genießen, statt sich mit überraschenden Grundsatzfragen konfrontiert zu sehen?
Kulle dagegen war in seinem intellektuellen Element: „Was Wirbeltiere angeht, so kenne ich mich bei Reptilien, Amphibien, Fischen und Vögeln nicht sonderlich aus. Bei den meisten Säugetieren ist Gruppenbildung zu beobachten. Nehmt uns, die Bären – nur die ignoranten menschlichen Biologen behaupten, wir seien Einzelgänger. Die waren halt nie in Bärenleben!“
„Und das ist auch gut so!“ brummte Bärdel.
„Sind denn die Menschen Einzelgänger oder Gruppengänger?“ wollte Nuk wissen.
„Die Menschen sind gesellige Tiere, wie wir auch. Früher, in der Menschenkindheit, haben sie auch gelebt wie wir, in Gruppen, die die Anthropologen beliebig mal als Stamm, Horde, Großfamilie, Clan oder Sippe bezeichnen. Wie auch immer man dieses Zusammenleben nennt: Alle Mitglieder waren ranggleich, es gab keine oder eine gering ausgeprägte Arbeitsteilung, es gab keinen nennenswerten individuellen Besitz. Jeder trägt unter solchen Bedingungen zum Wohl der Gemeinschaft bei, so gut er kann.“
„Ich weiß ja, dass die Menschen nicht sonderlich intelligent sind, aber wie dumm muss man sein, um so schöne Lebensbedingungen aufzugeben?“ Das war Na, die selten an Selbstzweifeln litt.
„Die ständige Fortentwicklung der Produktionsmittel führt zur Höherentwicklung der Produktionsverhältnisse, damit verbunden aber auch notwenig der Ausbildung von Klassen, wobei die Expropriateure darauf bedacht sind…“
Ein Blick in verständnislose Kinderaugen ließ Kulle verlegen innehalten. „Also“, sagte er, „nach einer gewissen Zeit wurde eine Gruppe von Menschen reicher als die anderen, und die Reichen wollten ihren Besitz behalten. Die Männer unterwarfen dazu die Frauen und zwangen sie, nur mit einem von ihnen Geschlechtsverkehr zu haben, so dass sie sicher sein konnten, dass sie die Väter der Kinder waren, die die Frauen zur Welt brachten. Besonders fiese Männer erfanden die Regel, dass alle so zu leben hatten, auch die Armen, und damit die Vorschrift befolgt wurde, behaupteten sie, sie sei von einem Gott gegeben, der alle bestrafen würde, die sie verletzen, vielleicht schon in ihrem Leben auf der Erde, ganz sicher aber im ewigen Dasein nach dem Tod.“
„Und das hat funktioniert? Die Erfindung der Religion?“ fragten Nanuk ungläubig.
„Das hat funktioniert, denn Arme und Reiche, Frauen und Männer wollten zu den Guten, Gerechten gehören und nicht zu den Schlechten, Verdammten.“
„Lange?“
„Sehr lange. In vielen Gegenden der Welt funktioniert es immer noch.“
„Aber in Dehland spielt das Christentum inzwischen eine immer geringere Rolle, richtig?“
„Richtig, Nuk!“ sagte Bärdel. „Vielleicht ist es Dir nicht aufgefallen: Du hast gerade ein Beispiel für eine andere Einrichtung genannt, zu der Menschen gehören müssen oder sollen oder können oder wollen.“
„Hmm,“ machte Nuk verlegen, weil ihr des Rätsels Lösung nicht sofort einfiel.
„Der Staat natürlich, nicht wahr, Onkel Bärdel?“ Na warf ihrer Schwester einen gemeinen Blick zu, während sie Bärdel und Kulle honigsüß anlächelte.
„Ja, der Staat. Menschen können ihn sich nicht aussuchen. In der Regel werden sie Bürger eines Staates, wenn sie in ihm geboren worden sind. In manchen Staaten ist das ein Fluch, zum Beispiel in Afghanistan, im Jemen, in Syrien. In anderen Staaten ist das dagegen ein Segen, zum Beispiel in Dehland, denn es gibt Versicherungen für alle, zum Beispiel gegen Krankheitskosten, und wer finanziell nicht für sich selbst sorgen kann, bekommt Geld vom Staat, wenn es auch nicht viel ist.“
„Ist der Staat in Dehland also nett?“ erkundigte sich Na.
„Politik, kleine Schwester, ist Handeln zur Durchsetzung von Interessen. Das haben wir bei Tante Atti und Onkel Kulle gelernt. Mit Nettigkeit hat das nichts zu tun. Du hast wohl wieder mal nicht aufgepasst, was?“
Die Rache war gelungen. Die Haut rund um Nas Nase wurde rosarot. Sie schämte sich.
„Aber etwas verstehe ich nicht. Warum bezahlt der Staat das alles?“
Bärdel pflückte sich eine große Portion Löwenzahnblätter und stopfte sie sich in den Mund, bevor er antwortete. Er wollte nicht zulassen, dass die Kinder sein Morgenvergnügen völlig ruinierten.
„Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass der Staat alles bezahlt. Tatsächlich verteilt er nur Gelder um, die die Bürger ihm zur Verfügung stellen mussten, indem sie Steuern zahlten. Aber Bürger, die denken, dass der Staat für sie sorgt, tun, was sie sollen, ohne zu widersprechen oder sich gar aufzulehnen.Sie funktionieren, gehen brav arbeiten, finden es normal, dass die Unternehmen nicht ihnen gehören, sondern Aktionären, und wählen alle paar Jahre die politischen Parteien, die ihnen in ihren Augen so viele Wohltaten zukommen lassen.“
„Ich hab’s doch vorhin schon gesagt: Menschen sind dumm!‘“ Na hatte sich schnell wieder von ihrer Blamage erholt. „Mir fällt übrigens noch eine Gruppe ein, zu der Menschen dazugehören wollen: Soziale Netzwerke.“
Das war das richtige Stichwort, um Kulle zornig zu machen. Aber er verzichtete darauf, wieder einen schwer verständlichen wissenschaftlichen Vortrag zu beginnen. Pädagogik war gefragt.
„Du hast recht, kleine Na. Eine Milliarde und fünfhundert Millionen Menschen sind zum Beispiel bei Facebook aktiv, und es wären noch viel mehr, wenn man sie ließe, aber in vielen Ländern ist es verboten. Lasst uns mal nachdenken, warum Facebook so erfolgreich ist! Ein paar Antworten sollten uns einfallen.“
Mit uns‘ meinte Kulle natürlich die Kinder, und die enttäuschten ihn nicht.
„1,5 Milliarden Menschen – das ist so eine große Gruppe! Wenn man dazu gehört, kann man einfach nichts falsch machen!“
„Jeder kann etwas mögen oder auch nicht, jeder kann etwas posten: Jeder einzelne hat das Gefühl, wichtig zu sein!“
„Man kann viele Freunde haben.“
„Man bekommt nur Sachen mitgeteilt, die der eigenen Meinung entsprechen. Man braucht sich also nicht über entgegengesetzten Ansichten zu ärgern.“
Die Zwillinge sahen Kulle erwartungsvoll an und bekamen auch das Lob, das sie verdienten.
„Sehr richtig, Ihr Beiden. Aber lasst uns noch ein bisschen grundsätzlicher nachdenken.“
Nanuk strahlten. Nachdenken war ihr zweitliebster Sport, gleich nach dem Herumtollen im Dorfteich.
„Au fein!“
„Facebook ist ein kapitalistisches Unternehmen. Im Kapitalismus werden Waren getauscht. Waren haben einen Tauschwert und einen Gebrauchswert. Der Käufer einer Ware ist am Gebrauchswert interessiert, der Verkäufer am Tauschwert. Der Tauschwert wird in der Regel im Preis ausgedrückt, also in Geld. Soweit alles klar?“
Die Kinder nickten ein wenig herablassend. Natürlich war das klar.
„Die Mitgliedschaft bei Facebook ist aber kostenlos. Welchen Preis zahlen die Nutzer an Mark Zuckerberg?“
Das war eine härtere Nuss, an der die beiden durchaus zu knabbern hatten. Sie tuschelten miteinander. Das war typisch: Wenn sie beide herausgefordert wurden, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel.
„Wir glauben, Onkel Kulle, dass Facebook viel über seine Mitglieder erfährt. Und vielleicht kann Mark Zuckerberg diese Informationen verkaufen, an andere verkaufen, an Unternehmen oder politische Parteien vielleicht, und bekommt so seinen Tauschwert. Auf einem Umweg, sozusagen.“ Nuk sprach langsam und stockend. Na, die sonst so vorlaute, hatte ihre ältere Schwester vorgeschickt. So konnte sie selbst in der Deckung bleiben. Aber die Vorsicht war überflüssig. Kulle war voll des Lobes, und auch Bärdel wiegte anerkennend den Kopf, obwohl er hauptsächlich mit der nächsten Portion Löwenzahn beschäftigt war.
„Gut gedacht! Es bleibt aber noch eine zweite Frage: Welche Gebrauchswert hat Facebook für die Nutzer?“
Als die Kinder nicht gleich antworteten, gab er ihnen einen Tipp: „Denkt an Eure Antworten vorhin: Warum ist Facebook so erfolgreich?“
„Die Mitglieder haben ein gutes Gefühl!“ sagten Na und Nuk gleichzeitig und brachten ihre Aussagen damit auf den Punkt.
„Hmmm,“ brummte Bärdel mit vollem Mund, und nachdem er seine Kräuterportion hinuntergeschluckt hatte, meinte er: „Noch wichtiger ist: Niemand langweilt sich mehr. Facebook ist die beste Verdummungs- und Zeittotschlagsmaschine, die je erfunden wurde.“
Kulle beendete das Gespräch: „Der größte Euphemismus dabei ist die Bezeichnung soziale Netzwerke‘. Facebook sollte besser Zuckerbergs Spinnennetz‘ heißen.“
Darüber mussten die Zwillinge erst mal nachdenken.
Mai 2018