Kreuzfahrer

Bemerkungen zu einem nicht nur historischen Phänomen

PD Dr. Kulle

Heilige Kriege

Gab es in der Geschichte der Hominiden Kriege, die nicht als ‚heilig‘ bezeichnet worden sind? Wir wissen es nicht. Da Gehorsam Homo nicht sui generis eingeboren ist, empfahl es sich vermutlich von jeher, seine erwünschte Subordination unter Befehle auch sinnloser Natur mit dem Auftrag einer höheren Macht zu rechtfertigen.

In frühen Zivilisationen mit städtischen Zentren war diese ideologische Überhöhung gewiss die Norm, waren doch politische und religiöse Macht eng miteinander verwoben oder gar identisch. Man denke nur an die Gesetzgebung Hammurabis 1.

Explizit führte man Heilige Kriege im antiken Griechenland zum Schutz des Apollonheiligtums in Delphi gegen räuberische Nachbarn. Es ist nicht unwichtig zu erwähnen, dass neben dem Heiligtum Schatzhäuser errichtet worden waren, in denen zahlreiche kostbare Weihgeschenke aufbewahrt wurden. Schon hier zeigt sich: Kein Heiliger Krieg ohne ökonomisches Interesse.

Die Kreuzzüge des Hochmittelalters und ihre Folgen

Als Papst Urban II. mit der seine Zuhörer überzeugenden Begründung „Deus lo vult“2 1095 in Clermont zum ersten Kreuzzug aufrief, sprach er zu Männern, die zum großen Teil ökonomisch und sozio-kulturell entwurzelt waren. Sie waren überzählige Söhne der Adelsschicht, die nicht erbberechtigt waren und kein Unterkommen in Klöstern oder beim Heer hatten finden können. Sie wurden geködert nicht nur mit der Aussicht, in ein Land zu ziehen, in dem laut biblischer Aussage Milch und Honig fließen3, sondern vor allem mit dem Versprechen des ewigen Lebens.

Geopolitisch und ideologisch strebte der ‚Pontifex maximus‘4 an, Gebiete mit zentralen Kultstätten und christlichen Minderheiten im Vorderen Orient der Herrschaft des Islam zu entreißen. Dabei waren gewaltsame Eroberungen eingeplant. Auch erhoffte sich die katholische Kirche eine Schwächung der anderen christlichen Strömungen.

Vor Ort zeigte sich den Kreuzfahrern allerdings, dass sie mit Milch und Honig nicht zu rechnen hatten und allzu oft auch nicht mit Brot und Wasser. 

Drei Jahre nach dem Aufruf des Papstes waren sie von ihrem eigentlichen Ziel, Jerusalem, noch weit entfernt. Das Kreuzzugsheer belagerte Antiochia5 mehr als ein Jahr lang und eroberte die Stadt schließlich, allerdings nur, um seinerseits in ihren Mauern belagert zu werden. Der Winter traf die Invasoren völlig unvorbereitet6. Sie litten unter bitterer Kälte und empfindlichem Nahrungsmittelmangel. Als es keine Tiere mehr gab, die man hätte essen können, nachdem gekochte Schuhsohlen sich als nicht nahrhaft erwiesen hatten, griff man auf getötete Türken und Sarazenen zurück, die die ausgesandten Fouragekolonnen aufgebracht hatten.

Auf einem dieser Raubzüge erreichten die Kreuzritter die befestigte Stadt Maarat an-Numan und begannen deren Belagerung. Nach der Erstürmung plünderten sie. Die männlichen Einwohner wurden sämtlich erschlagen, die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft. Die Zahl der Opfer des Exzesses war so hoch, dass selbst die christlichen Chronisten nur mit Scham davon berichteten. 7 Der eigentliche Skandal, der sich in das kollektive Gedächtnis der islamischen Welt eingrub, war jedoch ein anderer.

Bei der Plünderung der Stadt wurden nur wenige der erhofften Nahrungsmittel gefunden, die die Notlage hätten abwenden können. Das Heer war dem Verhungern nahe. Kannibalismus schien der einzige Ausweg.

Raoul de Caen berichtet:

„Die Unseren kochten die erwachsenen Heiden in Töpfen und steckten die Kinder auf Spieße, um sie gegrillt zu verschlingen.“8

Und der ebenfalls fränkische Chronist Petrus Tudebodus berichtet:

„Die Armen unter unseren Pilgern hatten begonnen, die Körper der Heiden zu zerlegen, um die in deren Mägen versteckten Goldmünzen zu finden; andere, vom Hunger gequält, zerteilten deren Fleisch in Stücke und kochten es, um es zu verzehren.“9

Es mag verwundern, dass wir diesen Ereignissen so breiten Raum geben. Das geschieht nicht wegen der Abscheulichkeit als solcher – die ist weniger rar, als Homo wahrhaben will –, sondern wegen ihrer Nachwirkungen.

Das Bild der Kreuzritter als fanatische Kannibalen ist in der arabischen Literatur zwei Jahrhunderte lang dominant gewesen10 und noch immer durchaus lebendig. In vielen Ländern des Nahen Ostens werden sie noch heute als „Kannibalen“ bezeichnet.

Ganz allgemein werden in Teilen der muslimischen Welt ‚Kreuzzug‘ und ‚Kreuzritter‘ als Ausdrücke verwendet, die aggressives Auftreten des Westens gegenüber dem Islam kennzeichnen sollen.

Diese Charakterisierung kann sehr konkrete Züge mit sehr unangenehmen Folgen annehmen. In der ‚Geistlichen Anleitung‘, mit der sich die Attentäter des 11. September auf ihre Anschläge vorbereiteten, werden als Feinde die „Kreuzfahrer“, also die westliche Welt, neben den Juden und arabischen Regierungen, die mit dem Westen kooperieren, genannt.

Der Begriff „Kreuzzug“ – und seine Nichtverwendung

Der Begriff wurde bis in unsere Zeit für Kampagnen zur Durchsetzung bestimmter Ziele benutzt. So kennt die Welt den deutschen Eroberungskrieg gegen die Sowjetunion als „Kreuzzug Europas gegen den Bolschewismus“, und George W. Bush bezeichnete den zweiten Irakkrieg wiederholt als „Kreuzzug gegen Terroristen“. Auf Drängen seiner Berater verzichtete Bush jedoch schnell wieder auf diesen Begriff, vornehmlich wegen seiner historisch-inhaltlichen Bedeutung in der islamischen Welt.

Die Bezeichnung ist also belastet, und manche Aktion, die den Namen wegen ihrer Intentionen und Machinationen verdient hätte, wird folgerichtig anders benannt.

Die Akteure sind dabei sehr unterschiedlich: Ob die USA in ihrem „Hinterhof“ bedrohten Regierungen zu Hilfe eilen oder den Krieg gegen Drogen führen, ob das Britische Empire, die Sowjetunion oder die USA Krieg um Afghanistan führen, ob die Volksrepublik China die ‚Neue Seidenstraße“ baut: immer geht es darum, den ins Auge gefassten Regionen den eigenen Stempel aufzudrücken, natürlich nicht, das kann offiziell nicht genug betont werden, zum eigenen Vorteil, sondern um das Glück der bisher Benachteiligten und Unterdrückten zu fördern.

Soweit bekannt, kommt es bei diesen Aktionen nicht mehr zu Kannibalismus. Solchen Hunger leiden die Kreuzfahrer, die sich nicht mehr so nennen, nicht. Es gelüstet sie nach Rohstoffen, Ackerflächen, Märkten.

Der Begriff „Kreuzfahrt“ – und seine Verwendung

Als Kreuzfahrt oder auch Kreuzfahrtreise werden Urlaubsreisen auf einem Kreuzfahrtschiff bezeichnet.

Es handelt sich hierbei um eine recht junge Art der Freizeitgestaltung von Homo sapiens, geboren aus dem dieser Spezies inhärenten Profitstreben. Der Reeder Albert Ballin versuchte die Verluste der Hapag, deren Passagierschiffe für den Nordatlantikeinsatz in den Wintermonaten im Hafen lagen, zu begrenzen, und propagierte deshalb 1891 Vergnügungsreisen in wärmere Gebiete. Das zunächst luxuriöse Angebot traf vor allem den Geschmack alleinstehender älterer Damen, entwickelte sich aber seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Massengeschäft.11

Lassen sich die Verheerungen der Kreuzzüge mit Kreuzfahrten vergleichen? Das mörderische Verhalten der Teilnehmer an einem Kriegszug mit dem Freizeitvergnügen von Touristen?12

An Nahrungsmangel leiden die Touristen nicht – im Gegenteil. Die üppigen Mahlzeiten an Bord – all inclusive – werden exzessiv genutzt. Gegessen und geschlafen wird auf dem Schiff: Bei den Landausflügen fällt für die lokale Wirtschaft in den angesteuerten Destinationen wenig Ertrag ab, deutlich weniger, als es bei landgestütztem Urlaub der Fall ist.

Der durch Kreuzfahrttouristen verursachte Kannibalismus ist ein anderer als der der Kreuzfahrer, nämlich der an der Umwelt. Die Luftverschmutzung ist gravierend: Die meisten Schiffe verbrennen auf hoher See Schweröl, also nichts anderes als Rückstände mit hohem toxischen Anteil, die bei der Erdölverarbeitung entstehen.13 Das Schwefeloxid-Quantum, das von den Kreuzfahrtschiffen produziert wird, ist beeindruckend: Der Konzern Carnival Corporation mit seinen Marken Aida, Costa und Cunard verursachte im Jahr 2017 eine zehnmal größere Menge als alle 260 Millionen in Europa befindlichen PKW zusammen.14

Zudem entstehen pro Passagier und Tag CO2-Emissionen von 200-300 Kilogramm und gut sieben Liter Abfall15, der bei den Landstopps entsorgt wird.16

Kreuzfahrttouristen und Kreuzfahrer

Kreuzfahrtschiffe sind teuer. Die „Global Dreams“ etwa, die wegen Geldmangels der Auftraggeber und mangels Nachfrage der Kunden17 nun18 in den Werften Mecklenburg-Vorpommerns nicht zu Ende gebaut wird, sollte 1,5 Milliarden Euro kosten und mit der geringen Zahl von 2500 Crewmitgliedern stolze 9.500 Passagiere befördern..

Deshalb müssen Kreuzfahrtschiffe auf Kreuzfahrt gehen, koste es, was es wolle, auch wenn die Passagiere nur einen Schnäppchenpreis zahlen. Und trotz der Homo sapiens nachgesagten Vernunftbegabung finden sich Passagiere für die Törns, auch wenn die ganz ohne Häfen auskommen müssen, weil kein erreichbarer Hafen das Anlegen von Kreuzfahrtschiffen erlaubt. Es finden sich Menschen, die dafür, dass sie an lebensgefährlichen Versuchen auf einer schwimmenden Petrischale ohne Exitmöglichkeit teilnehmen, Geld bezahlen.

Urban II. versprach den in ihrer Heimat perspektivlosen Kreuzfahrern Milch, Honig und den Himmel. Konzerne wie Carnival versprechen ihren ökonomisch abgesicherten zahlenden Kunden „all inclusive“ und damit auch Milch und Honig; vielleicht Landgänge, vielleicht Quarantäne, vielleicht eine schwere Erkrankung.

Perspektive

Elon Musk stellt in Aussicht, mit den technischen Möglichkeiten seines Unternehmens SpaceX vielleicht schon binnen der nächsten zehn Jahre eine Kolonie auf dem Mars zu gründen. Eine verlockende Aussicht: Leben auf einem Planeten mit hoher Strahlungsbelastung, mit einer mittleren Temperatur von -63°C, wobei es Temperaturschwankungen bis zu 100 °C gibt, und mit einer Atmosphäre, die zu fast 96 Prozent aus Kohlenstoffdioxid und nur zu 0,15 Prozent aus Sauerstoff besteht.

Er verspricht seinen superreichen Kunden das Blaue vom Himmel19 herunter. Es werden sich vermutlich genügend Kreuzfahrer für das Himmelfahrtskommando finden.

Januar 2022

Fußnoten

  1.  Übersetzung in englischer Sprache: http://www.general-intelligence.com/library/hr.pdf
  2. Der Chef sagt, das sei nicht nur eine unsinnige Aussage, denn Gottes Wille gelte den Christen als unergründlich, sondern auch noch schlechtes Latein. Die Sekretärin
  3. vgl. Exodus 3,8
  4. In unserem Kontext wäre allerdings die Bezeichnung ‚Destructor maximus‘ treffender.
  5.  das heutige Antakya im Südosten der Türkei
  6.  Es wäre gewiss interessant zu untersuchen, warum auch in späteren Zeiten Kreuzzüge am Winter scheiterten, man denke nur an Napoléon und die deutsche Wehrmacht in den Weiten Russlands. Eine Arbeitshypothese könnte sein: Machen Kreuzzüge besoffen und damit realitätsblind?
  7.  Das war nach der späteren Eroberung Jerusalems ebenso.
  8. Der Franke Raoul de Caen war Chronist und Panegyriker, also Verfasser von Lobreden. Die zitierte Aussage ist ihm vermutlich nicht leicht gefallen. 
  9.  Die Gier nach Gold ist stärker als der ärgste Hunger – das ist einem Bären nicht zu vermitteln, sagt der Chef. Die Sekretärin 
  10.  Die Fassungslosigkeit und das Entsetzen einer hochzivilisierten Gesellschaft angesichts der „barbarischen Invasoren“ aus dem Abendland, die auch vor kannibalistischen Exzessen nicht zurückschreckten, spiegelt sich in nahezu allen arabischen Chroniken und Berichten aus der Zeit zwischen 1096 und 1291 wider. 
  11.  2019, im letzten Jahr vor der Corona-Pandemie, nahmen weltweit 27,5 Millionen Menschen als Passagiere an einer Kreuzfahrt teil. 
  12.  Komische Frage! Sonst sagt der Chef immer, man kann alles vergleichen, sogar Äpfel mit Birnen. Die Sekretärin
  13.   Hauptbestandteile sind vor allem Alkane, Alkene, Cycloalkane und hochkondensierte aromatische Kohlenwasserstoffe (Asphaltene). Daneben treten noch aliphatische sowie heterocyclische Stickstoff- und Schwefelverbindungen auf (Stickstoffgehalt: 0,5 % und mehr / Schwefelgehalt: bis ≈ 6 %). In Rückstandsölen sind alle metallischen Verunreinigungen des Erdöls aufkonzentriert, wie Nickel, Vanadium, Natrium und Calcium. Igitt! Die Sekretärin
  14.  nach einer Untersuchung der Umweltverband-Dachorganisation ‚Transport and Environment‘.
  15.  Das gilt laut ‚statista‘ für Tui Cruises im Jahr 2019.
  16. Die Sorge haben folglich die Menschen in den angesteuerten Häfen..
  17.  Das Schiff sollte asiatische Kundschaft bedienen, aber Chinesen können ihre schön überwachte Volksrepublik gerade nicht verlassen.
  18.  im Januar 2022
  19.   Auf dem Mars ist der Himmel wegen des hohen Anteils von Staubpartikeln in der Atmosphäre allerdings eher gelb.

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