Katharer, Kataris und Katharsis

Bären halten Winterruhe, das weiß sogar jedes Menschenkind. Winterruhe ist aber nicht gleichzusetzen mit Winterschlaf, und das ist längst nicht jedem Menschen bekannt.

Die Bärenlebener hatten sich angewöhnt, mitten im Winter alle gleichzeitig für ein paar Stunden wach zu sein. Dann feierten sie gemeinsam die Wintersonnenwende. Und einer von ihnen erzählte ein Märchen. Weil ihnen aber keine Wintersonnenwendemärchen bekannt waren, hatten sie sich darauf geeinigt, einem Weihnachtsmärchen zuzuhören1. Davon kannten sie auch nicht allzu viele, und die bekanntesten – Der Schneemann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, Der Tannenbaum, Nussknacker und Mausekönig und so weiter – waren längst erzählt. Deshalb setzten die Bärenlebener ihren Ehrgeiz darein, sich selbst eine Geschichte auszudenken. Und man musste gut vorbereitet sein: Das Los bestimmte, wer dieses Jahr für die Unterhaltung der Versammlung zu sorgen hatte.

Nur einer machte sich keine Gedanken über winterliches Märchenerzählen. Fabulieren war seine Sache nicht, er hielt es mit wissenschaftlichen Fakten. Und weil das allen Dorfbewohnern bekannt war, erwarteten sie von ihm keine fantasievolle Geschichte. Und er erwartete, in Ruhe gelassen zu werden, was die Produktion und Präsentation von Fabuliertem anging. Er war sich völlig sicher, dass kein Zettel mit seinem Namen im Lostopf lag.

Weit gefehlt!

„Heute erzählt Kulle uns ein Weihnachtsmärchen!“

Kulle

Am liebsten wäre Kulle in seiner Schlafnische verschwunden, um weiter zu träumen,  aber jetzt den Spielverderber geben – das ging wirklich nicht.

„Ein Weihnachtsmärchen ist was mit Religion, oder? Geht es vielleicht auch ohne?“ fragte er, allerdings mit wenig Hoffnung.

„Natürlich mit Religion!“ Alle antworteten im Chor.

„Mit christlicher Religion?“

„Natürlich mit christlicher Religion!“

Kulle schluckte den Fluch herunter, der ihm auf der Zunge lag.

„Na denn,“ sagte er, um wenigstens ein bisschen Zeit zu schinden. Natürlich konnte er der Dorfgemeinde viel aus der Kriminalgeschichte des Christentums erzählen, aber ein Märchen wurde das gewiss nicht. Obwohl – ja, so könnte es gehen.

„Wir alle wissen, dass das Christentum sich wie ein Flächenbrand im Römischen Reich ausbreitete und schließlich sogar zur Staatsreligion wurde. Das Reich zerfiel, das Christentum blieb und wurde immer weiter verbreitet. Die römisch-katholische Kirche organisierte sich hierarchisch mit dem Bischof von Rom an der Spitze, der den Titel ‚Papst‘ annahm.

Den Päpsten damals ging es nicht darum, möglichst fromm zu sein, sondern sie wollten möglichst viel Macht und möglichst viele Reichtümer an sich raffen. Der hohe Klerus protzte mit seinem Luxus. 1000 Jahre nach der Geburt von Jesus, nach der Behauptung der Kirche zu Weihnachten, war von der Lehre dieses Mannes, der als Begründer des Christentums gilt, in der katholischen Kirche nichts mehr übrig. Jesus hatte Armut gepredigt.

Es gab aber viele Menschen, die wirklich nach der christlichen Lehre leben wollten. Es gab sie vor allem auf dem Balkan, dort wurden sie Bogomilen genannt. Und in Okzitanien, heute besser bekannt als Südfrankreich. Dort hießen sie Katharer, die Reinen, oder auch Albigenser, nach der Stadt Albi. Sie waren bewusst arm, sie lebten keusch, sie wollten keine Kinder zeugen, denn ihrer Meinung nach war die Welt das Reich des Bösen. Sie lehnten das Alte Testament ab, weil darin ein böser, rachsüchtiger Gott regierte, und anerkannten nur das Neue Testament.

Sie verhielten sich so vorbildlich, dass sie immer mehr Anhänger gewannen. Die katholische Kirche betrachtete sie folglich als Gefahr.

Damals schickten die Päpste Menschen, die glaubten, dass der Papst Gottes Willen verkündet, in den Krieg gegen sogenannte Ungläubige. Sie versprachen ihnen dafür Reichtümer und nach dem Tod die ewige Seligkeit. Die ersten Ungläubigen, gegen die man vorging, waren Moslems im Nahen Osten. Die hatten nämlich das ‚Heilige Land‘ erobert, und die Christen wollten es ihnen wegnehmen. Sie nähten sich ein Kreuz auf die Kleidung und zogen los. Deshalb nannte man sie Kreuzfahrer. 

Jetzt schickte der Papst zum ersten Mal Kreuzfahrer gegen Christen. Die katharischen Städte wurden erobert, in Brand gesteckt und alle Bewohner wahllos getötet, sofern sie nicht entkommen konnten. Nach zwanzig Jahren waren die letzten Katharer zur Kapitulation gezwungen. Okzitanien wurde ins französische Königreich eingegliedert.“

Sehr alter Bär im Sommer

„Mein sehr junger Bär, nun ist es aber genug!“ Der sehr alte Bär reckte seinen fast kahlen Schädel empört in die Höhe. „Du weißt offenbar nicht, was ein Märchen ausmacht. Das mag an Deinem zarten Alter liegen. Deshalb sage ich Dir: Du hältst uns hier einen historischen Vortrag, in dem es von Abscheulichkeiten nur so wimmelt. Das entspricht nicht unseren Erwartungen!“

Die Versammlung hielt den Atem an. Alle fragten sich, wie Kulle reagieren würde.

„Mein sehr verehrter sehr alter Bär, ich bitte um Verzeihung, dass ich Dir widersprechen muss.“ Kulle bemühte sich um einen höflichen Ton, aber seine Stimme war eine Terz höher als gewöhnlich. Daran konnte man bemerken, dass er sich ärgerte.

„Ich darf Dich daran erinnern, dass auch die Weihnachtsgeschichte aus den Evangelien historische Fakten enthält – oder wenigstens so tut. Es steht dort geschrieben, dass König Herodes alle männliche Erstgeburt töten ließ, weil ihm die Weisen aus dem Morgenland erzählt hatten, es gäbe einen neuen König der Juden. 

Ich darf Dich daran erinnern, dass auch die Weihnachtsgeschichte aus den Evangelien von Abscheulichkeiten nur so wimmelt. Sie beginnt mit der Darstellung herzlos behandelter Reisender und deren Flucht in ein anderes Land und endet mit Folter und Tod des Hauptdarstellers. Sie beginnt also schlimm und endet ganz schlimm.2

Mein Märchen dagegen hat ein Happy End, Du wirst schon sehen!“

Kulle holte tief Luft. Als er weitererzählte, war seine Tonlage wieder normal.

„Die päpstlichen Kreuzfahrer hatten sich alle erdenkliche Mühe gegeben, die Katharer umzubringen, aber alle hatten sie nicht erwischen können. Wer überlebte, floh und versuchte, aus dem Machtbereich der katholischen Kirche herauszukommen. Der Weg nach Osten bot sich an, derselbe Weg, den die ersten Kreuzfahrer genommen hatten: der Weg nach Palästina.

Wer heutzutage flüchtet, kommt nicht schnell voran. Früher waren Flüchtlinge noch viel langsamer. Jahre vergingen, bis sie über Griechenland und die Türkei nach Jerusalem gelangten. Die Moslems dort hatten die Kreuzfahrer längst wieder vertrieben und lebten in Frieden, aber die Katharer empfingen sie nicht mit offenen Armen: Christen, was auch immer für Christen, waren ihnen verdächtig. So zogen sie weiter südwärts, immer an der Küste Arabiens entlang, bis sie zu einer abgelegenen menschenleeren Halbinsel kamen. Sie nannten sie Katar und ließen sich dort nieder. Das heißt, eigentlich ließen sie sich nicht nieder, denn damit die Tiere, die sie züchteten, in der Wüste genug Nahrung fanden, mussten sie umherziehen. Sie lebten fast wie früher: in Armut und Bescheidenheit. Nur vergaßen sie im Lauf der Jahrhunderte ihre Religion und übernahmen den Glauben ihrer Beduinennachbarn: den Islam.

Aber als sich vor wenigen Jahrzehnten die Erde auftat, änderte sich alles. Öl schoss aus dem Wüstensand, und alle Welt wollte es kaufen. Auf einmal hatten die Kataris viel Geld, und da sie ihre Religion vergessen hatten, fanden sie daran nichts Schlimmes. Im Gegenteil: Sie genossen ihren Reichtum und gaben auch viel Geld mit vollen Händen aus. In diesem Jahr haben sie die Welt zu Gast gehabt: Sie haben viele schöne Stadien gebaut, darin spielten die besten Nationalmannschaften um die Fußballweltmeisterschaft der Männer.

Und wenn sie nicht gestorben sind,  dann bauen sie in ihrer Stadt Doha weiter wunderbare künstliche Inseln und genießen das Leben.“

Kulle setzte sich. Die Dorfversammlung blieb eine Weile lang still, dann setzte zaghafter Beifall ein. Bärdel als Versammlungsleiter bedankte sich höflich für die gemeinsame Anwesenheit und das schöne Märchen. Danach wünschte er allen eine weiterhin angenehme Winterruhe.

Kulle und Bärdel blieben allein in der Höhle zurück. Athabasca war an ihnen vorbeigekommen und hatte Kulle en passant den Vogel gezeigt. Na und Nuk hatten ihn fragend angesehen, waren aber weiter gegangen, als er stur an ihnen vorbeigeschaut hatte. Manfred, Tumu, Ramses, Piggy und Minerva – alle hatten den Kopf geschüttelt, und die Eule hatte ihren Hals so sehr verdreht, dass es aussah, als wollte sie sich selbst erwürgen.

„Was um Tussis Willen ist in Dich gefahren? Du weißt doch, was die Menschen mit der Nutzung fossiler Energien dem Klima antun?“

„Natürlich weiß ich das. Ich weiß auch, was Menschen mit der Ausübung von Religion ihresgleichen antun. Den Katharern haben sie viel angetan. Natürlich haben die Kataris nichts mit den Katharern zu tun. Aber wenn sie deren Nachfahren wären, hätten sie die Reinigung von der früheren Furcht und den früheren Schrecken verdient.

Im Übrigen: Nicht die Länder mit den Erdöl- und Erdgaslagerstätten sind in erster Linie verantwortlich für den Anstieg der Treibhausgase, sondern die Gier der Industrieländer.

Und ich weiß auch: Das ‚Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute‘ ist vielleicht wahr, aber es impliziert die Lüge, dass der Honeymoon ewig dauert. Wenn Romeo und Julia nicht gestorben wären, dann hätten sie vielleicht als frustriertes zänkisches Ehepaar geendet. Auch für die Kataris dürfte es ein böses Erwachen geben.

Eine Bitte noch: Nehmt meinen Namen für die nächsten Weihnachtsmärchenerzählabende besser aus dem Lostopf.

Und jetzt gehe ich ins Bett.“

Dezember 2022

  1. Die Weihnachtsgeschichte mochten sie dagegen gar nicht mehr hören
  2. siehe hier

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