Vormünder

P. D. Kulle

mit Bedauern: Zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant

Vorwort

Legitimität von Herrschaft:

  • Religion
  • Despotismus
  • Demokratie

Gesellschaftliche Sozialisation

Conclusio

Vorwort

Wir Bären sind keine Freunde institutionalisierter Hierarchien. Natürlich gibt es situationsbedingte Dominanzen: Wenn ein Mann feststellt, dass ein von ihm gezeugtes Kind seinen Interessen im Weg stehen könnte, mag er es in seine Nahrungskette aufnehmen – obwohl wir solche Fakten ungern eingestehen. Derselbe oder ein anderer Mann kann auch von der Mutter seines leiblichen Kindes  bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt werden – was wir natürlich ebenso gerne leugnen.

Homo sagt unserer Spezies nach, Einzelgänger zu sein. Das trifft durchaus zum Teil zu. Wo wir uns aber dazu entschlossen haben, gemeinschaftlich zu leben, treffen wir notwendige Entscheidungen gemeinsam und, wenn möglich, einvernehmlich.

Bei der Spezies HSS stellt sich das ganz anders dar. Diese Tiere bedürfen sogenannter Regierungen, denen das Recht zugestanden wird, über das Wohl und Wehe ihrer Gruppe zu entscheiden.

Legitimität

Eine Regierung braucht ein Narrativ, um ihren Anspruch auf Herrschaft zu unterfüttern. Dieses Narrativ kann vielerlei Formen annehmen.

Religion

Die Berufung auf möglichst enge Beziehungen zu einem oder mehreren vom Volk akzeptierten göttlichen Wesen ist zwar ein Nicht-Argument, aber eines, das schwer zu entkräften und dessen Infragestellung leicht zu sanktionieren ist.

Ideal ist die Behauptung einer Personalunion: Der Regent ist die Inkarnation eines göttlichen Wesens. Dieser Erzählung bedienten sich die antiken Könige Ober- und Unterägyptens. Seit der frühdynastischen Zeit verstand sich der König (Pharao) als Sohn der Himmelsgottheiten1‚Sich verstehen als‘ ist hier gleichzusetzen mit: ‚Sich darstellen als‘. Ob die ägyptischen Könige tatsächlich von ihrer Göttlichkeit ausgingen oder sich nur so inszenierten, wird ebenso unbeantwortet bleiben müssen wie die Frage, ob der Papst an Gott glaubt.. Er war zugleich ihr Bevollmächtigter, Abgesandter, Partner und Nachfolger.2Die letztgenannte Gleichsetzung bezieht sich auf die Regierungszeit der Götter, die nach altägyptischer Mythologie zuvor auf der Erde herrschten.

Eine ein wenig abgeschwächte Variante ist die Behauptung, der durchaus menschliche Machthaber regiere in göttlichem Auftrag, er habe von der Gottheit detaillierte Anweisungen erhalten, wie er zu verfahren habe. Diesen Trick nutzte Hammurabi, König von Sumer und Akkad31792 bis 1750 v.u.Z., der das angebliche Gebot des Sonnengottes wortwörtlich in Stein meißeln ließ. 282 Gesetzesparagraphen erhielten so Gültigkeit und wurden nicht in Frage gestellt.

In christlicher Zeit konnten Regenten sich auf solche Erklärungsmuster nicht mehr berufen. Ihr Gott des Alten Testaments war in seinem Dornbusch oder in seiner Wolkensäule geblieben und materialisierte sich nicht mehr, und sein Sohn war nach seiner Himmelfahrt ebenfalls entrückt. Sie erfanden etwas anderes.

Das Gottesgnadentum ist eine im spätantiken und mittelalterlichen Europa entwickelte Legitimation der Monarchie, die sich allein auf den vorgeblichen Willen oder die Gnade Gottes stützt, nicht auf die Zustimmung menschlicher Einrichtungen oder Institutionen oder gar auf die des Volkes. In dieser Vorstellung gingen Annahmen wie die der göttlichen Natur der römischen Kaiser und der merowingische Glaube an das Königsheil auf.

Das letzte deutsche Staatsoberhaupt, das sich auf das Gottesgnadentum berief, war Kaiser Wilhelm II. Sein imperialer Wahlspruch lautete „Gott mit uns“. 

Traditionen sind zählebig, auch wenn sie inhaltsleer geworden sind: Die Monarchen von Dänemark (protestantisch-episkopal), Liechtenstein (katholisch), Monaco (katholisch), der Niederlande (reformiert) und des Vereinigten Königreichs (anglikanisch-episkopal) führen in ihrem Titel bis heute den Zusatz „von Gottes Gnaden“. Eine mehr als zeremonielle Rolle spielt dieser Titel allerdings nicht mehr, da die Politik aller dieser Länder vorwiegend von gewählten Parlamenten und Regierungen bestimmt wird.

Man gebe sich aber nicht der Illusion hin, dass der Volksglaube in der Gegenwart nicht mehr ausgenutzt wird, um Herrschaft zu legitimieren und zu zementieren. Der Blick nach Thailand räumt mit dieser Täuschung rasch auf.

Neunzig Prozent der Thailänder bekennen sich zum Buddhismus, einem Glauben, der in Thailand die Autorität des Königs und seine Herrschaft legitimiert. Seit dem 13. Jahrhundert besteht die Vorstellung, dass der Monarch in früheren Existenzen große spirituelle Verdienste erworben hat und damit zum Schützer des Buddhismus wird.

Das königliche Charisma4Thai: barami beruht auf der strikten Einhaltung der „zehn buddhistischen Vollkommenheiten“ – nämlich Freigiebigkeit, Sittlichkeit, Entsagung, Weisheit, Willenskraft, Geduld, Wahrhaftigkeit, Entschlussfreude, Güte und Gleichmut.

Seit 2016 ist Maha Vajiralongkorn Phra Vajiraklaochaoyuhua König von Thailand. Von den zehn buddhistischen Vollkommenheiten ist er weit entfernt: Er hat(te) mehrere Geliebte, er erklärte seinen Hund zum Luftwaffengeneral, er eilte mit nacktem tätowierten Oberkörper, bauchfreiem Shirt und in Jeans an seinen livrierten Bediensteten vorbei und rannte die Gangway zum Privatjet hoch. Er lebt gern in Oberbayern. Die Liste ist verlängerbar.

Vajiralongkorn hält sich trotz allem an der Macht, nicht zuletzt dank des Lèse-Majesté-Gesetzes, das Majestätsbeleidigung mit drakonischen Strafen sanktioniert.

Und damit sind wir bei der nächsten Spielart des Narrativs.

Despotismus

Überzeugte Europäer bezeichnen ihren sogenannten Kontinent5der nichts anderes ist als eine asiatische Halbinsel gerne als die „Wiege der Demokratie.“ Sie unterschlagen dabei in der Regel, dass das Kind schwer krank war6Die attische Demokratie schloss Frauen und Sklaven von der politischen Partizipation völlig aus und wandte für die freien Männer ein Zensussystem an. und dass seine Eltern alles andere als fürsorglich mit ihm verfuhren. Die Demokratie lebte in ihrem Herkunftsland Griechenland bis heute insgesamt weniger als 400 Jahre.

Viel verführerischer als die Demokratie war für sogenannte Machtmenschen die Despotie.

Der Despot ist im griechischen Wortursprung der ‚Herr‘ über Sklaven und seinen Haushalt. Die griechische Polis war durch eine Trennung von Haushalt (oikos) und öffentlicher Sphäre charakterisiert. Wer sich nur für seine Ökonomie interessierte, galt den Alten als Idiot. Wenn sich ein Politiker in der öffentlichen Sphäre so verhielt wie im privaten Haushalt, d. h. die freien Bürger wie Sklaven behandelte, sprach man in der antiken Tradition von Despotie.

Auch in modernen Despotien werden die Bürger nicht als Bürger respektiert, sondern wie Sklaven behandelt. Die Untertanen sind ihrem Despoten zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. Es gibt kein Parlament und keine Parteien, oder diese bestehen nur zum Schein. Eine Opposition wird nicht geduldet. Kritiker und Abweichler werden gnadenlos verfolgt. 

Der Despot regiert gern durch Günstlinge, oft fälschlich als Oligarchen bezeichnet,  die nicht selten große, aber ausschließlich von ihm herrührende politische Macht besitzen, die ihnen jederzeit entzogen werden kann. Außerdem kontrolliert der Despot die Macht seiner Lakaien durch das gezielte Schüren von Rivalität unter ihnen.

Der Herrscher einer Despotie besitzt ein absolutes Machtmonopol, ihm allein unterstehen die Machtorgane Militär und Polizei. In der Regel gibt es eine Geheimpolizei für die organisierte Verfolgung politischer Gegner. Oft orientiert sich die Politik dieser Staaten an einer Ideologie.

Der Personenkult um einen Despoten nimmt häufig religiöse Züge an: Sein Abbild wird beispielsweise auf Medaillen und Porzellantellern dargestellt, man sieht ihn auf Denkmälern; Straßen und Plätze sind nach ihm benannt.

In neuerer Zeit trat der Despotismus im Dritten Reich (1933 bis 1945) unter Adolf Hitler, in Spanien (1939 bis 1975) unter Francisco Franco, in der Sowjetunion unter Josef Stalin, in Italien (1922 bis 1943) unter Benito Mussolini, in Chile (1973 bis 1990) unter Augusto Pinochet, im damaligen Zaire (heute Demokratische Republik Kongo) unter Mobutu Sese Seko, in Uganda unter Idi Amin oder in der Zentralafrikanischen Republik unter Jean-Bédel Bokassa auf. Auch mehrere heutige Staaten in Asien und Afrika können als Despotien betrachtet werden, so etwa Iran, Nordkorea, Turkmenistan oder Simbabwe. Russlands Putin darf sich inzwischen brüsten, zu den Despoten zu zählen7Natürlich ist es ein Versäumnis, dass hier überwiegend europazentriert argumentiert wurde. Asien, insbesondere China, verdiente viel mehr Aufmerksamkeit. Qin Shi Huang Di – „Erster erhabener Gottkaiser von Qin“, eigentlich Ying Zheng; * 259 v. Chr. in Handan; † 10. September 210 v. Chr. in Shaqiu) war der Gründer des chinesischen Kaiserreiches (Einigung: 221 v. Chr.) und der chinesischen Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.). Er war der Herr mit der Terrakottaarmee. Die Beschäftigung mit seiner Regierung ist äußerst bildend..

Despoten bedienen sich gern des Terrors, also der systematischen und willkürlich erscheinenden Verbreitung von Angst und Schrecken durch ausgeübte oder angedrohte Gewalt, um Menschen gefügig zu machen. Damit können sie empirisch ihre Macht lange aufrecht erhalten.

Terror als Gegenkonzept von Vernunft, von Tugend, wie Robespierre es vorschwebte, hat sich dagegen in dem einzigen bisherigen historischen Experiment8Frankreich 1793 – 95 nicht bewährt. Vielleicht waren die Angehörigen der Revolutionstribunale aber auch einfach zu besoffen.

Immanuel Kant hat in seiner Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘ die Charakterisierung des Despotismus aus der griechischen Antike aufgegriffen: Der öffentliche Wille werde von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt, mithin sei die ausführende Gewalt nicht von der gesetzgebenden abgesondert. Insofern könne es Despotismus auch in Demokratien geben.

Demokratie

Welch beeindruckende Alternative! Eine Staatsverfassung ohne religiöse Bindung und ohne Despotie, in der die Herrschaft bzw. die Machtausübung auf der Grundlage politischer Freiheit und Gleichheit sowie weitreichender politischer Beteiligungsrechte der Staatsbürger erfolgt.

Dazu gehören allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen, die Aufteilung der Staatsgewalt von Legislative, Exekutive und Judikative auf voneinander unabhängige Organe (Gewaltenteilung) sowie die Garantie der Grundrechte.

In einer repräsentativen Demokratie, in der gewählte Repräsentanten zentrale politische Entscheidungen treffen, haben oft Parteien maßgeblichen Anteil an der politischen Willensbildung und an der durch Wahlen legitimierten Regierung. Die Opposition ist fester Bestandteil eines solchen demokratischen Systems, zu dem auch die freie Meinungsäußerung samt Pressefreiheit, die Möglichkeit friedlicher Regierungswechsel und der Minderheitenschutz gehören.9 In einer direkten Demokratie trifft das stimmberechtigte Volk politische Entscheidungen unmittelbar. Wir beziehen uns im Folgenden auf die repräsentative Demokratie als das deutlich häufiger praktizierte Modell.

Staaten, in denen bürgerliche Freiheiten und politische Grundfreiheiten nicht nur respektiert, sondern auch durch eine politische Kultur gestärkt werden, die dem Gedeihen demokratischer Prinzipien förderlich ist, gelten als vollständige Demokratien. Dazu zählen 2023 Norwegen, Neuseeland, Island, Schweden, Finnland, Dänemark, Irland, Schweiz, Niederlande, Taiwan, Luxemburg, Deutschland, Kanada, Australien, Uruguay, Japan, Costa Rica, Vereinigtes Königreich, Österreich, Griechenland, Mauritius, Südkorea, Frankreich und Spanien.

In diesen Ländern leben weniger als 7,8% der Weltbevölkerung. Hingegen lebten 39,4 % in einer Diktatur, das bedeutet gegenüber dem Vorjahr einen Zuwachs von 2,5%.

Wie ist zu erklären, dass Menschen ein Leben in relativer Freiheit zugunsten eines Lebens in Unterdrückung aufgeben?

Gesellschaftliche Sozialisation

Das Kind, also der unfertige Mensch, wird in eine Welt hineingeboren, in der er leben muss. Damit er in ihr leben kann, muss er in sie eingepasst werden. Das gesellschaftliche Gefüge funktioniert um so reibungsloser, je mehr der Mensch überzeugt ist, in der besten aller möglichen Welten zu leben. 10Nach Leibniz’ Lehre wäre Gott nicht das vollkommene Wesen, wenn er etwas anderes als die „beste aller möglichen Welten“ für die Menschen erschaffen hätte. Man sieht, Leibniz funktioniert in einer politischen Welt, in der die Herrschenden auf das Gottesgnadentum setzen, perfekt.

Die Agenten dieser Anpassung sind die Menschen im sozialen Umfeld des Kindes, zunächst die in seiner unmittelbaren Umgebung.

In einfach strukturierten Gesellschaften bedarf es in der Regel keiner weiteren Maßnahmen. Wo etwa Subsistenzwirtschaft praktiziert wird, arbeitet das Kind, sobald es zu sinnvollen Handgriffen fähig ist, zusammen mit der Familie auf dem Feld oder mit dem Vieh. Rituelle Handlungen, an denen die gesamte Dorfgemeinschaft teilnimmt, sorgen für den ideologischen Überbau.

Hier ist zweierlei von Bedeutung: Es bedarf nahezu keiner professionellen Sozialisationagenten. Das Kind wächst in die Gesellschaft hinein, indem es am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, wie beschränkt das auch immer sein mag. Dem Kind wird das, was es als sein Leben erfährt, selbstverständlich sein. Es wird sich die Anschauungsweisen und Formen der Lebensbewältigung, die ihm durch die Menschen geboten werden, welche ihn unmittelbar umgeben, zu eigen machen. Der junge Mensch lernt, die Welt mit den Augen seiner Mitmenschen zu sehen, sie mit ihren Begriffen zu ordnen und zu gliedern, mit ihren Emotionen und Bewertungen auf ihre Erscheinungen zu reagieren und sich ihre Techniken des Umganges mit den Gegebenheiten dieser Welt anzueignen. Er übernimmt also sukzessive eine Welt, in der die ihn unmittelbar umgebenden anderen Menschen schon leben. Ist dieser Prozess vollzogen, ist der junge Mensch enkulturiert.

Enkulturation ist auch das Ziel der kindlichen Sozialisation in komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaften; allerdings ist der Weg dahin komplizierter. Die Welt, mit der das Kind sich auseinanderzusetzen lernt, ist geprägt durch verschiedene miteinander verzahnte Lebens- und Arbeitswelten, deren jede spezifische Anforderungen stellt und spezielle Fähigkeiten erfordert. Sozialisation hier ist die Verinnerlichung von durch Arbeits- oder Funktionsteiligkeit bedingten institutionalen Subwelten. Es gilt, rollenspezifisches Wissen und Können zu erwerben und sich ein jeweils rollenangemessenes Vokabular zu eigen zu machen.

Das kann die Familie allein nicht leisten. Im Rahmen der sekundären Sozialisation übernehmen unterschiedliche Lehrer Bildung11leider immer weniger und Ausbildung12leider immer mehr.

Nota bene: Der Begriff der sekundären Sozialisation wird in modernen Industriegesellschaften zusehends obsolet, sie ist Sozialisation schlechthin. Wo Kleinkinder bereits im Alter von sechs Monaten an Erzieherinnen in Kinderkrippen abgegeben werden, damit die Mutter möglichst bald nach der Geburt dem Arbeitsmarkt als Humankapital wieder zur Verfügung steht, bleibt für Primärsozialisation praktisch kein Platz. 13Bärenmütter würden ihre Jungen niemals so schnell aus den Klauen lassen.

Die Arbeitswelt ist der Lebenswelt nachgeordnet. Wenn die Gesellschaft patriarchalisch strukturiert ist, wie können dann Frauen ein Unternehmen leiten? Wenn eine starre Ständeordnung existiert, wie kann es dann flache betriebliche  Hierarchien geben? Wenn alle Obrigkeit von Gott ist, wer sollte sich anmaßen, Vorgesetzte zu kritisieren?

Das gesellschaftliche Sein bestimmt das gesellschaftliche Bewusstsein, aber es bedarf etlicher Anstrengungen, dieses Bewusstsein in die Köpfe der Individuen zu bekommen. Pädagogik allein reicht in autoritären Gesellschaften dafür nicht aus. Ideologie ist gefragt, und sie kann vielerlei Gestalt annehmen: arische Physik, christliche Heilslehre, Nationalismus/Chauvinismus, theologische Pseudowissenschaft etc. etc. Und wo die Verankerung der gesellschaftsstabilisierenden Narrative in den Köpfen nicht hinreicht, treten Institutionen mit ihren Ritualen stabilisierend an ihre Seite: Der Komsomol, die Hitlerjugend, die Partei, die Kirchengemeinde.

Der so vereinnahmte Mensch wird die Gesellschaft, in der er lebt, in der Regel nicht in Frage stellen. Wenn die Machthaber Indoktrination und Repression geschickt genug handhaben, wird ihm vielleicht sogar verborgen bleiben, dass diese Welt nur eine von unzähligen anderen menschlichen Lebenswelten ist.14 Für viele Nordkoreaner dürfte das der Fall sein.

Wenn aber eine Gesellschaft politische und soziale Wahlmöglichkeiten bietet, was in vollständigen Demokratien der Fall ist, dann setzt das Regelwerk lediglich den Rahmen, innerhalb dessen der Einzelne die Möglichkeit hat, sich zu entfalten.

Aber: Ein Rahmen wird gesetzt. Auch in Demokratien stecken die Menschen im Gängelwagen, den ihre Vormünder für sie konstruiert haben.15 vgl. Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? Sie dürfen politische Maßnahmen in Frage stellen, nicht aber das politische System. Oft dürfen sie noch nicht einmal über ihren Körper verfügen, ohne juristisch oder zumindest moralisch sanktioniert zu werden, wie es bei Schwangerschaftsabbruch und Suizid der Fall ist.

Die den Rahmen setzende politische Instanz, die Legislative, ist in Demokratien  nicht durch sich legitimiert, sondern durch das Wahlvolk. Kritik an den Parlamentariern kann sich daran festmachen, dass sie nicht repräsentativ für die Bevölkerung sind. Zum Beispiel ergibt sich bei der Betrachtung des Deutschen Bundestages folgendes: 

Von den im Jahr 2021 gewählten Abgeordneten sind 87 Prozent Akademiker, während ihr Anteil in der Bevölkerung bei 14 bis 15 Prozent liegt. Laut einem Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales von 2016 auf Basis der Daten von 1998 bis 2015 werden in Deutschland die Präferenzen der sozialen Schichten bei politischen Entscheidungen unterschiedlich stark berücksichtigt. Es zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang von politischen Entscheidungen mit den Einstellungen von Personen mit höherem Einkommen, jedoch keiner oder sogar ein negativer mit denen von Einkommensschwachen.

Dergleichen bleibt nicht unbemerkt. Der erlaubte Diskussionsrahmen gestattet angesichts einer solchen Sachlage Zweifel an der Richtigkeit politischer Beschlüsse. 16 Aktuelle weitere deutsche Beispiele für erhöhte Diskussionsbedarf sind zum Beispiel der Streit um die Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland. Oder der Verzicht auf Atomenergie. Oder der Ausbau alternativer Energien. Oder der Krieg der Hamas gegen Israel und umgekehrt. Oder oder oder… Das ist in einer Demokratie legal und legitim.

Der erlaubte Diskussionsrahmen hat aber seit einigen Jahren eine neue technische Basis: die sogenannten sozialen Medien im Internet, in denen jeder, geschützt durch gesetzlich garantierte Anonymität, seinen Gedanken und auch seinem Bauchgefühl uneingeschränkt Ausdruck verleihen und sich mit anderen zusammenschließen kann, was die eigene Haltung verstärkt. Für diejenigen, die keine Meinung haben, sich aber um so williger einer anderen anschließen, hat das Internet eine neue Spezies des HSS generiert: Influencer. Wer sich dem Einfluss solcher echter oder digitaler „Menschen“ ausliefert, hat die Chance auf eigenständiges Denken vertan. Er ist nur allzu bereit, seine relative Freiheit, die ihm Unzufriedenheit bereitet, zugunsten eines alternativen Systems der Unfreiheit aufzugeben.  

Conclusio

Der sehr verehrte Kollege Immanuel Kant hat 1784 die Frage, was Aufklärung sei, beantwortet: der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Es sei allein wichtig, sich von Vormündern zu befreien und zu wagen, selbst zu denken. 

So weit, so einleuchtend, so befreiend.

Bei Betrachtung der Menschenwelt 260 Jahre später komme ich zu folgendem Schluss:

Mit dem politischen System der Demokratie hat HSS ein Gesellschaftsmodell entwickelt und praktiziert, das die Macht von Vormündern reduziert.

Die aktuelle globale Entwicklung zeigt allerdings, dass dieses Gesellschaftsmodell bedroht ist.

Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass HSS ohne Vormünder nicht auskommen kann, ja, dass er nach mehr Vormündern verlangt, wenn es nur wenige gibt.

Wenn dem so ist, muss ich der Schlussfolgerung des geschätzten Kollegen Kant zu meinem Bedauern widersprechen. Denn: Natürlich leben wir nicht in einem aufgeklärten Zeitalter, wie er richtig erkennt. Aber auch nicht in einem Zeitalter der Aufklärung, wie er postuliert. Das wird es vermutlich nicht geben.

Fußnoten:

  • 1
    ‚Sich verstehen als‘ ist hier gleichzusetzen mit: ‚Sich darstellen als‘. Ob die ägyptischen Könige tatsächlich von ihrer Göttlichkeit ausgingen oder sich nur so inszenierten, wird ebenso unbeantwortet bleiben müssen wie die Frage, ob der Papst an Gott glaubt.
  • 2
    Die letztgenannte Gleichsetzung bezieht sich auf die Regierungszeit der Götter, die nach altägyptischer Mythologie zuvor auf der Erde herrschten.
  • 3
    1792 bis 1750 v.u.Z.
  • 4
    Thai: barami
  • 5
    der nichts anderes ist als eine asiatische Halbinsel
  • 6
    Die attische Demokratie schloss Frauen und Sklaven von der politischen Partizipation völlig aus und wandte für die freien Männer ein Zensussystem an.
  • 7
    Natürlich ist es ein Versäumnis, dass hier überwiegend europazentriert argumentiert wurde. Asien, insbesondere China, verdiente viel mehr Aufmerksamkeit. Qin Shi Huang Di – „Erster erhabener Gottkaiser von Qin“, eigentlich Ying Zheng; * 259 v. Chr. in Handan; † 10. September 210 v. Chr. in Shaqiu) war der Gründer des chinesischen Kaiserreiches (Einigung: 221 v. Chr.) und der chinesischen Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.). Er war der Herr mit der Terrakottaarmee. Die Beschäftigung mit seiner Regierung ist äußerst bildend.
  • 8
    Frankreich 1793 – 95
  • 9
     In einer direkten Demokratie trifft das stimmberechtigte Volk politische Entscheidungen unmittelbar. Wir beziehen uns im Folgenden auf die repräsentative Demokratie als das deutlich häufiger praktizierte Modell.
  • 10
    Nach Leibniz’ Lehre wäre Gott nicht das vollkommene Wesen, wenn er etwas anderes als die „beste aller möglichen Welten“ für die Menschen erschaffen hätte. Man sieht, Leibniz funktioniert in einer politischen Welt, in der die Herrschenden auf das Gottesgnadentum setzen, perfekt.
  • 11
    leider immer weniger
  • 12
    leider immer mehr
  • 13
    Bärenmütter würden ihre Jungen niemals so schnell aus den Klauen lassen.
  • 14
     Für viele Nordkoreaner dürfte das der Fall sein.
  • 15
     vgl. Immanuel Kant, Was ist Aufklärung?
  • 16
     Aktuelle weitere deutsche Beispiele für erhöhte Diskussionsbedarf sind zum Beispiel der Streit um die Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland. Oder der Verzicht auf Atomenergie. Oder der Ausbau alternativer Energien. Oder der Krieg der Hamas gegen Israel und umgekehrt. Oder oder oder…

Mai 2024


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