Kulles Habilitation

Der Wert

Eine umfassende und vollständige Untersuchung des Begriffs unter ökonomischen und kulturellen Aspekten

Habilitationsschrift , vorgelegt von Dr. rer. oec. Kulle


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1. Vorwort

Der Wert ist es wert, angemessen gewertet zu werten – pardon, zu werden.
Ökonomische Werte werden nämlich nicht nur gemessen, sondern auch dem ihnen jeweils inhärenten Aufwand angemessen. Danach bzw. in dem Prozeß seiner Transformation in einen anderen Wert wird der Wert umgewertet oder auch, falls das mißlingt, in sein Gegenteil verkehrt – er wird entwertet.

Völlig anders verhält es sich mit kulturellen Werten. Geht es nach dem Wünschen und Wollen derjenigen, die sie hervorgebracht haben, so werden sie weder umgewertet noch entwertet, sondern bewahrt und wertgeschätzt – wie man unschwer sieht, ein Begehren, das den Horror oeconomicus hervorrufen muß.

Es gilt also zu untersuchen, wie sich das – wir nehmen hier bewußt ein Ergebnis unserer Untersuchungen vorweg, in dem wir einfügen: scheinbar – antagonistische Verhältnis von ökonomischem Wert und kulturellen Werten in der Gegenwart darstellt und in Zukunft entwickeln wird.

2. Der ökonomische Wert

Unter Berücksichtigung ökologischer Werte, die im Rahmen dieser Arbeit zwar nur eine untergeordnete, in bezug auf die Erhaltung bestehender biophysikalischer Gleichgewichte aber eine zentrale Rolle spielen, verzichten wir an dieser Stelle darauf, sattsam bekannte Fakten zu wiederholen und so die Verarbeitung von tausenden von Bäumen zu Makulatur zu verursachen.

Es sei deshalb lediglich auf die Arbeiten von Smith, Ricardo, Marx, Schumpeter, Hilferding und Keynes verwiesen, um nur die wichtigsten Klassiker zu nennen.

3. Die kulturellen Werte

Für kulturelle Werte gibt es keine herkömmliche allgemein verbindliche wissenschaftliche Definition (1).

Ursprünglich stammt der Begriff „Kultur“ aus der Landwirtschaft. In Anbetracht der im zwanzigsten Jahrhundert in Europa und im Zuge der „Grünen Revolution“ in vielen Ländern der Erde vollzogenen widerökologischen Maßnahmen widerstrebt es uns allerdings, diesen Begriff zu gebrauchen.

Zunächst handhabbar erscheint uns eine Definition, die Kultur begreift als „geistig-sozialen Entwicklungsstand“ sowie als „Gesamtheit der Errungenschaften auf gesellschaftlicher, künstlerischer und humanitärer Ebene“. Man beachte: Hier ist eine gesellschaftliche, also partikulare Variante enthalten. Ein konkreter Wert also. Im Deutschen bezeichnet der Begriff „Kultur“ seit etwa 1700 die Ausbildung und geistige Vervollkommnung des Individuums. Wir haben es also mit einem Begriff zu tun, der nicht nur das Besondere, sondern sogar das Einzelne berücksichtigt.

Was aber ist Kultur heute?

Handelt es sich nach wie vor um die Identität einer wie auch immer begrenzten Gruppe von Menschen? Haben ursupatorische Begriffe aus unterschiedlicher ideologischer Genesis, wie „Kulturrevolution“ oder „Kulturindustrie“, irgendeinen erhellenden Inhalt?

Nein. Dagegen genügt ein Blick in das Fernsehprogramm eines beliebigen Landes, um zu einer zeitgemäßen Begriffsbestimmung zu gelangen. So weist zum Beispiel das Programm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Dehland (2) am 20. März 1997 zur Primetime folgende Sendungen vor: „Zauberhafte Heimat“ und „Die volkstümliche Hitparade“. In beiden Fällen handelt es sich um Volksmusiksendungen, wobei kaum störend ins Gewicht fällt, daß in der erstgenannten Emission „der jodelnde Japaner Tekeo Ischi mit von der Partie“(3) ist. Dem dehländischen Fernsehkonsumenten ist an diesem Abend klargewesen: Im ersten und zweiten Programm gibt es heute Abend „meine“ Musik. „Ausländische“ Sendungen wußte er sehr wohl davon zu trennen.

Also hat unser Fernsehkonsument zumindest Rudimente dessen bewiesen,was sein kultureller Zeitgenosse idealtypisch zeigen sollte: Er ist wenigstens nicht xenophob.

Was also sind kulturelle Werte heute?

Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Antwort einfach: Nichts.

Postulierte und partiell vorhandene traditionelle kulturelle Werte haben sich aufgelöst unter den Schocks der Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (4) und dem Diktat des Wertgesetzes: was geblieben ist, ist Folklore (5) .

Dem Normalbürger stellt sich diese Frage freilich anders dar: Für ihn sind kulturelle Werte letzte Rückzugspunkte nationaler oder völkischer Identität in einer Welt, die ihm zunehmend weniger Orientierung bietet. Daß das so ist, hängt wiederum mit dem ökonomischen Wert zusammen.

4. Die Möglichkeiten des ökonomischen Werts

Tussi (6) würde natürlich sagen, daß alles endlich und unendlich zugleich ist, aber, mit allem Respekt, in bezug auf den ökonomischen Wert gilt es zu differenzieren.

Bestandsaufnahme:

Wie global ist Kapital?

  • a) Virtuelles Kapital ist grenzenlos, nimmt an Menge zu, umrundet die Welt, sucht sich Anlagemöglichkeiten, wo es objektiv keine mehr gibt, verwandelt die Geldwelt in einen Roulettetisch. (7)
  • b) Information ist grenzenlos, umrundet die Welt in Sekundenbruchteilen, wird zum billigsten Preis gesucht und vielerorts geboten.
  • c) Anlagekapital ist in Grenzen beweglich; die Grenzen sind bestimmt durch den größtmöglichen Profit und die Größe des Unternehmens. Global Players können Grenzen überschreiten, mittelständische Betriebe nicht.
  • d) Die Arbeitskraft ist, da gegenwärtig noch als menschlich definiert, äußerst unflexibel. Sie ist in der Regel in soziale und/oder private Strukturen eingebunden und dort fixiert. (8)

5. Die Möglichkeiten des kulturellen Werts

Der kulturelle Wert in seiner buntscheckigen Vielfalt und zugleich Singularität verhält sich in seiner Entwicklung ungekehrt proportional zum ökonomischen. Dieser wachsend, ist der Untergang jenes gegeben.Dem Alltagsverstand zeigt sich dieser Prozeß in der Überschwemmung der Welt mit den kulturellen (9) Produkten der jeweiligen imperialen oder, in letzter Konsequenz, globalen Hegemonialmacht. Die tiefergehende Analyse zeigt, daß der Prozeß des sich einander bedingenden Wachsens und Verschwindens notwendig miteinander gekoppelt ist: Wo der Tauschwert, gemeinhin Wert genannt, zwangsläufig (10) seine materielle Basis verliert (11) und zugleich unablässig zuzunehmen scheint, degeneriert der konkrete Gebrauchswert, also auch der als begrenzt definierte kulturelle Wert, und tendiert gegen Null.

6. Die Zivilisation

Mit diesem Begriff benutzen wir einen der am meisten mißbrauchten in der Geschichte der Menschheit.

Für den Philister ist die Zivilisation vor allem durch zwei Merkmale charakterisiert:

  1. Er kann seines Lebens halbwegs sicher sein, weil das Töten von Angehörigen der Gattung Mensch – zumindest in Friedenszeiten – gesellschaftlich geächtet ist. (12)
  2. Er kann seine tatsächlichen oder vermeintlichen Bedürfnisse befriedigen.

Da das Strukturierungsvermögen des Philisters unterentwickelt und sein Gedächtnis kurz ist, tritt für ihn das erste Merkmal seines Zivilisationsverständnisses nach einer subjektiv erlebten Phase individueller Sicherheit in den Hintergrund.Seinem Bewußtsein wird – ohne daß er bewußt wäre – das zweite Merkmal allein evident. Erst das erlaubt, unter dem Aspekt der Konsumtion, die sich stetig ausweitende Herrschaft des Wertes.

Betrachtet man die zivilisatorischen Vorstellunges des Philisters unter wissenschaftlichen Aspekten, so erweist sich zu 1:

Die relative Friedfertigkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens wird erkauft durch die Preisgabe der individuellen Souveränität zugunsten einer Horde bewaffneter Männer, vulgo als Staat bezeichnet, ausstaffiert mit Armee und Polizei als Repressionsorganen.

Der Reichtum der Gesellschaft stellt sich nicht dar als solidarisches Netzwerk und wechselseitig befruchtende Diskurse, vielleicht auch sokratische Dialoge, sondern als ungeheure Ansammlung von Waren – das zu 2).

Mit der – erstaunlicherweise von Menschen formulierten – Idee der Zivilisation haben weder die Vorstellungen des Philisters noch deren wissenschaftliche Durchdringung etwas zu tun.

Der „civis“, der die Zivilisation gestaltende Mensch, ist ein Idealbewohner der griechischen Polis, also ein Politiker. (13) Zwar ist zu konzedieren, daß die Idee dieses „zoon politikon“ in einer Sklavenhaltergesellschaft entwickelt wurde, die nichts von individuellen Menschenrechten hielt und halten konnte (14) ; auch ist deutlich, daß der Gedanke einer herrschaftsfreien Gesellschaft außerhalb der intellektuellen Möglichkeiten jener Idealphilosophen lag (15) , aber dennoch ist beachtlich, daß in diesem Gedankengebäude zumindest in der herrschenden gesellschaftlichen Teilgruppe Worte wie „Weisheit“ und „Wissenschaft“ (16) ausschlaggebend für relevante Entscheidungen sein sollten.

Für den Wissenschaftler ist es faszinierend festzustellen, daß sich der „falsche“ gegenüber dem „richtigen“ Begriff durchzusetzen vermochte. Es hätte sich allerdings erübrigt, eine Untersuchung über ökonomische und kulturelle Werte anzustellen, wäre es anders.

7. Zusammenfassung

Folgende Fakten

  • Der ökonomische Wert wächst, wird global und allgegenwärtig, verliert aber zugleich seine Basis
  • Der Gebrauchswert, also auch der kulturelle Wert, schwindet
  • Die faktische Durchsetzung eines falschen, aber wirkmächtigen Zivilisationsbegriffs führt zu einer Verstärkung der Macht des ökonomischen Werts

lassen nur einen Schluß zu: Der ökonomische Wert tendiert dazu, die Menschenwelt zu beherrschen – er vermag das allerdings nur um den Preis seiner Aufhebung.

8. Prognose

Wie unter 4. dargelegt, tendiert der ökonomische Wert zu Globalisierung und Virtualisierung. Basierte er auf konkreten Gebrauchswerten, zum Beispiel also auch kulturellen, schüfe diese Tendenz zwar keine Zivilisation, wohl aber ein Gleichgewicht. Da dieses aber nicht der Fall ist, bläht sich der ökonomische Wert sekündlich, minütlich, stündlich, täglich, wöchentlich, monatlich, jährlich auf. (17) Dieses Wachstum ist faszinierend und schillernd; allein, es gleicht einer Seifenblase. Ein leichter Überdruck im Inneren einer solchen Blase wird durch den Außendruck kompensiert. Bleiben wir im Bild: Der ökonomische Wert wächst, also der Druck im Inneren. Der Außendruck, die konkreten Werte, schwinden.

Was kann passieren, wird geschehen, muß sich notwendig ereignen?

Pfffffffftt……….

9. Nachwort

1. Ich danke, wie immer, meiner Sekretärin.

2. Ich grüße Robert Kurz.

3. Auf einen Lehrstuhl an einer Menschenuniversität lege ich aufgrund empirischer Erfahrungen keinen Wert mehr.


Fußnoten:

(1) oder erwartet etwa der geneigte Leser, daß wir uns hier auf das Niveau von Eibl-Eibesfeld begeben?
Anders verhält es sich mit Aussagen über den „Prozeß der Zivilisation“, über den der geschätzte Kollege Norbert Elias ausführlich gearbeitet hat. Auch Günther Anders und, häufig unterschätzt, Elias Canetti haben hier Beiträge geliefert. Aber Zivilisation ist unser Thema noch nicht. (zurück)

(2) bärischer Ausdruck für Deutschland (die Sekretärin) (zurück)

(3) Zu Problemen der Globalisierung werden wir zwangsläufig im folgenden kommen. (zurück)

(4) Um Papier zu sparen, werden wir auch hier auf eine Erläuterung verzichten. (zurück)

(5) Natürlich entwickelt sich aus unterschiedlichen Motiven auch Nationalismus. (zurück)

(6) Gottheit des Verfassers (die Sekretärin) (zurück)

(7) Bekanntlich gewinnt beim Roulette immer die Bank. (zurück)

(8) Da die Arbeitskraft dazu tendiert, Maschinenform anzunehmen und sich in ihrer traditionellen Form überflüssig zu machen, ist auch hier die Tendenz zur Globalisierung unübersehbar.
Fazit: Langfristig wird Tussi, wie immer, recht behalten. (zurück)

(9) Der Begriff der Kultur wird hier lediglich konventionell, nicht aber inhaltlich verwandt. (zurück)

(10) Die Zwangsläufigkeit dieses Prozesses wird im folgenden erläutert werden. (zurück)

(11) Vergleiche 4a. (zurück)

(12) Es ist objektiv durchaus richtig, einen solchen Zustand hochzuschätzen, tritt er doch in der Geschichte des homo sapiens sapiens äußerst selten auf. (zurück)

(13) vgl. „citoyen“ vs. „bourgeois“ (zurück)

(14) Wir übrigens auch nicht, aber das soll hier nicht näher erläutert werden. (zurück)

(15) vgl. z. B. Platon, Vom Staat, und in seiner Tradition: Morus, Utopia (zurück)

(16) vereint, nicht getrennt! (zurück)

(17) Nachzuverfolgen an den Indizes jeder beliebigen Börse der Welt (zurück)


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