Der Kanzler war jetzt nicht mehr, wie schon lange, nur verzweifelt, er war superverzweifelt, ultraverzweifelt, hyperverzweifelt. Deshalb hatte er im Deutschen Bundestag die Vertrauensfrage gestellt und war wunschgemäß gescheitert. Nun war es am Bundespräsidenten, die Neuwahlen zu erlauben, die der Kanzler damit bezweckte. Aber was bezweckte er mit dem Zweck? Konnte er mit diesem Zweck-Mittel das Ziel erreichen, wiedergewählt zu werden, ja, wollte er überhaupt wieder gewählt werden, da er doch klar gemacht hatte, dass er jetzt weder weiter regieren konnte noch wollte? Schlaflos wälzte er ich nachts auf zerwühlten Bettlaken herum, bis er zumindest einen Entschluss fasste. Am nächsten Morgen suchte er seinen alten zerschlissenen Rucksack, der alle Umzüge überstanden hatte, aus einer Kellerecke hervor.
„Ich muss mal weg!“ erklärte er seiner Frau. Die Frau war nicht mehr dieselbe, und sie war verständnisvoller als ihre Vorgängerin. Als ehemalige Journalistin wusste sie, dass es manchmal unabdingbar war, Geheimnisse zu bewahren, zumindest für eine gewisse Zeit. Aber als gelernte Journalistin wusste sie natürlich auch, dass ihr Mann nicht einfach so verschwinden konnte.
„Wohin gehst du?“ fragte sie.
„Top secret, selbst für dich. Offiziell bin ich in Gleneagles, auf dem G-8- Gipfel. Da gibt es eh nichts Wichtiges zu entscheiden – es geht nur um ein bisschen Schuldenerlass für die ärmsten Länder Afrikas. Allerdings sind die in gewisser Weise schon wichtig – Dehland braucht ihre Stimmen in der UN-Vollversammlung, damit wir endlich den uns zustehenden ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat kriegen. Endlich gleichauf mit George Dubbleyou sein – wie mir da der Kamm schwillt! Für die als offiziell geltenden Filmeinspielungen in Schottland mit mir wird mein Freund Tony schon sorgen.“
„Du nimmst einen Rucksack mit?“ fragte sie ungläubig. „Du hast keine Hotelreservierung, noch nicht mal eine Kreditkarte?“
„Nein!“ antwortete er stolz. „Die Freunde, die mich beherbergen, nehmen selbstverständlich kein Geld. Sie leben recht einfach.“ Bei dem Wort ‚Freunde’ rieselte ihm ein Schauer den Rücken herunter.
Sie stellte keine Fragen. Sie schnallte ihm noch einen Schlafsack auf den Rucksack und schmierte ihm Brote, sie erinnerte ihn daran, dass nicht nur sie, sondern auch sein Hund und seine Töchter sehnsüchtig auf seine Rückkehr warteten, was ihm gefiel, und sie erinnerte ihn nicht daran, dass er rechtzeitig zum Wiener Operball oder zu einem sonstigen wichtigen gesellschaftlichen Ereignis unbedingt zurück sein musste, anders als ihre Vorgängerin, was ihm ebenfalls Vergnügen bereite.
So ging er dahin, und der Weg war nicht kürzer und nicht weniger mühevoll als beim ersten Mal. Spät am Abend kam er in Bärenleben an. Natürlich erkannte er das Bärental gleich wieder, aber es kam ihm merkwürdig unbewohnt vor. Jetzt, mitten im Juli, waren die Brombeeren natürlich noch ungenießbare grüne Klumpen, aber die Himbeeren lockten, Winzball neben Winzball zu roten Kugeln geschlossen, und im Gras dufteten die würzigen Walderdbeeren. Aber niemand hatte von den leckeren Früchten genascht. Er war äußerst irritiert. Er war aber auch viel zu müde und erschöpft, um jetzt noch nach den Bären zu rufen oder gar auf die Suche nach ihnen zu gehen. Er ließ sich zu Boden fallen, wo er gerade stand, schaffte es noch nicht einmal, in den Schlafsack zu schlüpfen, und schlief zum ersten Mal nach langen Jahren wieder tief und traumlos.
Er schlief lange, und al er erwachte, stand die Sonne schon hoch. Von rechts und links, von vorne und hinten nickte ihm eine üppige Himbeerernte zu, die noch immer von keinem gierigen Bären eingefahren worden war. Er blinzelte kurz, öffnete wieder die Augen – und plötzlich hatte sich die Welt verwandelt. Vor ihm saß der große Braune – Bärdel -, neben ihm der Kleine mit der Fliege – Kulle.
Die Bärenfrau, die ihn beim letzten Mal als erste begrüßt hatte, war auch dabei – Tumu, erinnerte er sich. Ein vierter, bisher unbekannter Bär hatte sich dazugesellt.
„Guten Morgen! Uns kennst du ja schon. Das da ist Manfred – mein Sohn.“ Wieder sprach Tumu als erste.
„Guten Morgen!“ sagte der Kanzler, verwirrt ob des plötzlichen Auftritts. „Wo kommt ihr denn so plötzlich her?“
„Wir sind gar nicht hergekommen!“ kicherte Tumu. „Dies ist eine virtuelle Konferenz.“
Abrupt setzte sich der Kanzler auf und lachte. „Ach so, ihr seid gar nicht richtig da? Immer zu Scherzen aufgelegt, wie?“ Er streckte mutig eine Hand aus, machte den Zeigefinger lang und piekste damit Bärdel an, der ihm am nächsten saß. Der Finger verschwand tief in Bärdels Fell, und der Kanzler spürte gar nichts.
„Oh!“ sagte er.
„Das ist noch gar nichts!“ kommentierte Manfred. „Darf ich mal?“ fragte er, ohne die Antwort abzuwarten. Er kniff den Kanzler in den Arm, und dem tat das schrecklich weh.
„Au!“ schrie der folglich.
Die Bären brummten zufrieden.
„Das geht so gar nicht!“ erklärte der Kanzler. Er hatte seine Misere völlig vergessen, verdrängt, weswegen er hergekommen war. Ihn interessierten jetzt nur noch technische Details. „Das geht so gar nicht!“ wiederholte er. „Wenn ihr wirklich virtuell seid, könnt ihr Virtuelles als real empfinden, nicht aber Reales. Und das auch nur mit hohem technischem Aufwand und bis heute nur teilweise in Echtzeit.“
„Wirklich?“ erkundigte Kulle sich scheinheilig unschuldig.
„Wir haben die Technik ein wenig weiterentwickelt,“ erklärte Manfred kurz und bündig.
„Und wie funktioniert das? Wie habt ihr das geschafft? Wo lebt ihr jetzt? Warum seid ihr weggezogen? Wie…“
„Jetzt hör endlich auf, Fragen zu stellen, die dich überhaupt nicht interessieren!“ knurrte Bärdel. „Ich habe genug Menschenpsychologie studiert, um zu wissen, dass du nur Antworten auf eine Frage haben möchtest, und das ist nicht die, die du eben gestellt hast. Als du herkamst, hattest du noch andere Fragen, aber das ist vorbei. Jetzt willst du nur noch wissen: ‚Könnt ihr mir diese Technik geben?’ Die Antwort ist: Nein.“
„Nein!“ jaulte der Kanzler auf. „Aber…“
„Aber diese Technik ist revolutionär! Niemand verfügt über sie, niemand von den Menschen. Wenn ihr sie mir zur Verfügung stelltet, könntet ihr den Standort Dehland retten. Wir würden den Export noch mehr ankurbeln, Arbeitsplätze in Millionenhöhe würden geschaffen, ich würde wiedergewählt!“ Es zeigte sich, dass Manfred den Kanzler gründlich studiert haben musste. Jedenfalls konnte er ihn hervorragend imitieren (Es ist allerdings fraglich, ob auch der Kanzler weiß, dass „Wenn-Sätze“ würde-los sind und folglich des korrekten Konjunktivs Präteritum bedürfen. (die Sekretärin)) .
„Genau!“ bestätigte der Kanzler irritiert.
„Cui bono?“ wollte Kulle wissen. „Erstens willst du gar nicht wiedergewählt werden, um mit dem unwichtigsten Punkt anzufangen. Deutlich weniger als dein Exgenosse Oskar. Der hat den Ausstieg so gewählt, dass ihm eine Wiedereinstiegsoption offen blieb. Der hat deutlich gemacht, dass ihm deine politische Richtung nicht passt. Und du? Du sagst: meine politische Richtung passt mir, liebe Leute, aber euch offensichtlich nicht, und deshalb lasse ich mir jetzt von meinen engsten Mitstreitern bestätigen, dass sie meiner Richtung nicht mehr folgen wollen, damit ihr alle die Chance habt, mich ein paar Wochen später wiederzuwählen. Wenn das eine nachvollziehbare Logik ist, fresse ich meine Fliege, und ich darf dir sagen, ohne eitel zu erscheinen, dass ich ziemlich viel von Logik verstehe. Soweit zum ersten Punkt.“
Kulle holte Luft. „Nun zum zweiten. Ja, bestimmt würden Arbeitsplätze geschaffen. Nicht so viele, wie du denkst. Manfred ist Minimalist und erreicht mit geringsten Mitteln verblüffende Ergebnisse. Nicht unbedingt dort, wo du denkst. Spitzenkräfte sind nötig, um die Bedingungen für Manfreds VR zu schaffen – die gibt es unter den Menschen gegenwärtig hauptsächlich in China, Indien und Brasilien. Einige andere Länder sind im Kommen. Über das dehländische Bildungssystem, die Bereitschaft und das Interesse der Dehländer, sich im Bereich der Naturwissenschaften und der Technik zu qualifizieren, schweigt des Bären Höflichkeit – deine Ministerin für Bildung kann in dieser Hinsicht bestimmt mit Zahlen aufwarten, falls dir gerade die Unterlagen fehlen.
Zum dritten. Du hast ein strukturelles Arbeitslosigkeitsproblem. Du hast versucht, dem Problem beizukommen, nicht, indem du es gelöst hast, sondern indem du den Betroffenen auferlegt hast nachzuweisen, dass sie ihre Lage selbst verschuldet haben und sich selbst daraus befreien können. Dieser Ansatz ist gescheitert, weil er scheitern musste, und nicht, wie die Dehländer aufgrund der veröffentlichten Meinung gerade zu glauben gehalten sind, weil Peter Hartz irgendwo zusammen mit Belegschaftsvertretern von VW von willigen Damen unterhalten worden ist. Richtig?“
Der Kanzler nickte betrübt.
„Kopf hoch, Kanzler! Manfreds geniale technische Entwicklung könnte dieses Problem lösen…“ Kulle hielt seine Stimme in einer verheißungsvollen Schwebe. Bärdel und Manfred grinsten. Tumu kicherte verhalten. Aber davon bemerkte der Kanzler nichts. Eine Welle der Hoffnung hatte ihn überschwemmt, eine schon lange nicht mehr gefühlte Wärme.
„Wie denn?“ presste er hervor, voller Angst, Kulles vage Andeutung eines Versprechens könnte sich als Trug erweisen. Bärdels dezidiertes „Nein!“ hatte er längst vergessen, weil er es vergessen wollte.
„Ihr produziert das Equipment, meinetwegen unter dehländischem Patent, mit dehländischer Lizenz. Ihr verkauft es weltweit, für wenig Geld. Das Equipment hat mehr Möglichkeiten, als wir dir hier gezeigt haben. Jeder, der es besitzt, kann sich jede Welt generieren, die er will. Die meisten, die das tun, werden der Verführung erliegen und nie wieder aus ihren Phantasien auftauchen. Das Problem der überflüssigen Menschheit erledigt sich so von selbst.“ (Kulle bittet R. Sieferle um Verzeihung, weil er diese Idee von ihm geklaut hat.)
„Phantastisch!“ flüsterte der Kanzler.
„Ja, phantastisch!“ pflichtete Kulle bei. Dann wurde er sehr ernst. „Übrigens – wir werden dir das Know-how nicht zur Verfügung stellen. Als Bären fühlen wir uns verpflichtet, zum Überleben jeder Spezies auf diese Erde beizutragen, wie widerlich sie auch sei.“
Er machte eine effektvolle Pause.
„Kanzler, warum bist du eigentlich hergekommen?“
„Ich wollte…“ Dem Kanzler fiel keine Antwort ein, weil er die Antworten auf die Fragen, die er hatte stellen wollen, inzwischen bekommen hatte. Es waren allerdings nicht die Antworten, die er hatte haben wollen.
„Ja?“ fragte Tumu.
„Ich wollte Hilfe,“ sagte der Kanzler hilflos.
„Die hast du doch bekommen, oder?“ antworteten die Vier im Chor. Und waren verschwunden.
Der Kanzler tat das einzig Richtige, das ihm zu tun blieb. Er plünderte die Himbeersträucher, suchte die Walderdbeerenstauden nach ihren winzigen Früchten ab und stillte so seinen Hunger. Dann räumte er seine wenigen Habseligkeiten zusammen und machte sich auf den Heimweg.
In ihrem neuen Zuhause irgendwo in Dehland amüsierten sich Bärdel, Kulle , Manfred und Tumu noch kurze Zeit über den dummen Menschen, der einmal wieder nichts von ihnen gelernt hatte. Da war sein Vorgänger doch von anderem Kaliber! Dann gingen sie ihrer Wege. Bärdels Familie machte sich auf Beerensuche. Kulle allerdings bediente sich ein zweites Mal der genialen Technik Manfreds und stellte eine Verbindung zu Oskar Lafontaine und Gregor Gysi her. Nicht, dass er sich allzu viel davon versprach. Aber man konnte ja nie wissen.